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Corona – die existentielle Beunruhigung durch ein neues Virus

3D-Grafik des SARS-CoV-2-Virions

3D-Grafik des SARS-CoV-2-Virions
Urheber: CDC/ Alissa Eckert, MS; Dan Higgins, MAM
gemeinfrei

Ein Gespenst geht um die Welt. Gerade noch schien es weit weg, im fernen China. Nun ist China gar nicht mehr so fern wie noch vor ein paar Jahren. Es ist nicht mehr das Entwicklungsland, nein, es ist im Begriff, alles bisher Dagewesene technisch, wissenschaftlich und ökonomisch hinter sich zu lassen.

Das Gespenst hat den wohlklingenden Namen Corona, lateinisch Kranz, Krone. Diesen Namen teilt das Virus nicht nur mit einem Mädchennamen, sondern auch mit einer Erdbeersorte, deren runder Fruchtkörper – erdbeerspezifisch – von Samen umgeben ist. Der Name verbildlicht das Aussehen des kugeligen Viruskörpers, umgeben von stachelförmigen Ausstülpungen, die ihn wie die Strahlen einer Sonne umgeben. Auch die Sonnenstrahlen werden Corona genannt. Daraus leitet sich der Name des Corona-Virus ab.

Mithilfe der Stacheln dockt das Virus an eine lebende Zelle an. Ein virusgebundenes Enzym verschafft dem fremden Organismus Zugang zu ihr. Ein Enzym ist ein Steuerungselement für die biochemischen Prozesse der Zelle. Der Begriff Enzym ist aus altgriechisch ἐν- en-, in-, und ζύμη zýmē, Hefe, abgeleitet. Damit ist gemeint, daß ein Enzym wie ein Gärstoff einen Umwandlungsvorgang auslöst. Das Protein im Stachel des Virus öffnet die Zelle und bewirkt deren Verschmelzung mit der Virushülle. So gelangt die Erbgutinformation des Virus in den inneren Kern der Zelle, in der sich nun ein gigantischer Umpolungungsprozess in Gang setzt. Indessen geht die Zelle, sobald sie ihre Funktion als Vermehrungskörper erfüllt hat, wie ein geplatzter Luftballon zugrunde und setzt die frisch erbrüteten Viren frei, die nun ihrerseits gesunde Zellen befallen, um sie effektiv, zu ihren eigenen Gunsten, zu steuern. Und abermals vollzieht sich der gleiche Kontrollmechanismus, der die Zahl gekaperter Zellen ständig erweitert.

Das Virus erreicht so in seiner exponentiellen infektiösen Tragweite eine unbekannte Dimension.

Das liegt daran, dass eine exponentielle Entwicklung im Gegensatz zu einer linearen für das menschliche Gehirn schwer vorstellbar ist. In einer linearen Funktion erhöht sich ein Wert stetig, in einer exponentiellen steigend. Es findet ein Vermehrungsprozess statt, der sich selbst beschleunigt.

Er beginnt gemächlich, dann vollzieht er sich immer schneller, bis er schließlich einen fast senkrechten Anstieg der Infektionsrate erreicht, weil beim exponentiellen Wachstum in einem festen Zeitraum jeweis eine Vervielfachung der Fallzahl stattfndet. Legt man dem dem exponentiellen Wachstum also eine Reproduktionszahl – den R-Wert – nur eine geringfügig erhöhte Fallzahl über 1 zugrunde, beginnt bereits ein exponentieller Anstieg der Inzidenzen, der Fallzahlen.

Liegt der Faktor bei 1, steckt jede infizierte Perspn jeweils eine weitere an. Also stecken 3 Pesonen 3 weitere an. Hier beginnt der leicht vorhersagbare lineare Anstieg: Diese 3 geben das Virus wiederum jeweils an einen weiteren, also einen verdoppelten Anstieg. Steckt aber jemand stattdessen 3 weitere an, beginnt das expoentielle Wachstum, das bald explosionsartig ansteigt: Jeder dieser 3 ist Überträger bei 3 weiteren, also 9, diese wiederum ihrereits von je 3, also 27. Danach steigt die Anahl auf 81, dann auf 243, 729, 2267 und so geht es immer rasanter weiter. Eine stetig wachsende lineare Kurve ist lange überholt, während die exponentielle ins Unermessliche ansteigt.

Das Virus SARS-CoV-2 ist eine Mutation bekannter Influenza-Viren, die schon MERS und SARS (1) verursacht haben, grippale Viruserkrankungen der Lunge, die offenbar von Wildtieren ausgehen, jedoch, um übertragen zu werden, eines Zwischenwirts bedürfen, der seinerseits eine Übertragung auf einen anderen ermöglicht. Dieser Krankheitsüberträger ist bisher noch unbekannt, sodass die vollständige Infektionskette noch im Dunkel liegt. Es gibt Vermutungen, dass es sich um ein Schuppentier handelt, das streng geschützte Pangolin, ein exotisches, archaisch anmutendes Säugetier, dessen Fleisch als Delikatesse, dessen Schuppen als Potenz- und aphrodisierendes Arzneimittel der traditonellen chinesischen Medizin illegal gehandelt werden.

Wurden SARS und MERS noch als fernöstliche Erscheinungen wahrgenommen, versetzt das neuartige Corona-Virus CoV-2 die Welt nun in Alarmstimmung.

Influenza Virus

Influenza Virus
public domain

Viren sind Erreger, die uns aus unkomplizierten Krankheitsverläufen wie einem Schnupfen bekannt sind. Schwerer wiegt dagegen schon das Grippe-Virus, das Influenza-Virus. Sein klangvoller Name, der aus lateinisch influere, einfließen, abgeleitet ist und Begriffe wie Einfluss, Beeinflussung umfasst, lässt schon eher an Gefahr denken. Und tatsächlich, Influenza, die „echte“ Grippe – also alles andere als ein grippaler Infekt, eine harmlose Erkältung – ist eine ernste Infektion, hervorgerufen durch Viren aus einer äußerst vielfältigen Familie.

Ein Virus ist ein Organismus, den als Krankheitserreger zu eliminieren, deshalb so schwierig ist, weil man noch kein Mittel zu seiner Bekämpfung kennt. Man kann sich das Virus vorstellen als eine Art Parasit, der eine Zelle kapert und am Leben eines lebendigen Organismus „saugt“, indem er sie für seine eigenen Bedürfnisse umprogrammiert, sie also entgegen ihrem ureigenen Lebenszweck für die eigenen Überlebensstrategien steuert. So erfüllt sich ihm, dem sexuellen und existentiellen Nicht-Wesen, sein Verlangen nach Überleben und Vervielfältigung.(2)

Das ist bei Bakterien, die zu den Lebewesen zählen, anders, weil sie mit biologischen Mitteln, Antibiotika, bekämpft werden können. Ein Antibiotikum ist ein Medikament, das lebendige Organismen angreift, indem es aus Stoffwechselprodukten von Mikroorganismen gewonnene Substanzen gegen bakterielle Krankheitserreger einsetzt. Das nämlich sagt der Name Antibiotikum aus. Darin steckt anti, αντί,, gegen, und βíος, bios, Leben.

Antibiotika können also nur gegen lebendige Organismen wirken. Dagegen weiß man über Viren noch nicht genug, um sie in ihrer Zwischenexistenz in den Gegensätzen Leben und Material einzuordnen. Ein Virus ist der kleinste Krankheitserreger, der einen lebenden Organismus befällt. Das Virus selbst ist kein Lebewesen: Es fehlt ihm das entscheidende Merkmal des Lebens, der Stoffwechsel. Auch die Art seiner Vermehrung ist tendenziell ungeklärt. Dabei ist die Tatsache seiner Fähigkeit der Reproduktion unstrittig. Ein Virus veranlasst seine Wirtszelle zur Reproduktion, einer Art Manipulation zu seinem eigenen Vorteil und zum Nachteil der parasitär besetzten Zelle, des „Wirts“. Dadurch kommt es zu einem Prozess vehementer Vermehrung der Viren innerhalb der Wirtzelle, bis diese an Überbeanspuchung stirbt und die neu produzierten Viren weitere gesunde Zellen besetzen können. Allerdings – und hier setzt eine kollektiv vermittelte Raffinesse dieses Organismus ein – geschieht das nur bis zu dem Punkt, der den Wirt, dessen vitale Funktion er schmarotzend nutzt, noch möglichst lange am Leben lässt, um sich nicht durch dessen Tod die Lebensgrundlage zu entziehen.

Man kennt seine Zerstörungskraft, seine Überlebens- und Anpassungsfähigkeit. Das macht ihn Lebendigem zwar ähnlich, jedoch umso schwieriger zu bekämpfen. Es wird davon ausgegangen, dass befallene Lebewesen Viren nur durch körpereigene Immunabwehr eliminieren können.

An diesen Gedanken knüpft die Idee von Impfung an. Eine aktive Impfung setzt den Körper einer unbedenklichen Infektion aus und versetzt ihn in die Lage, Abwehrstoffe gegen den Erreger aus eigener Kraft zu bilden und sich des nunmehr identifizierbaren Angreifers in einer Art Körpergedächtnis zu erinnern. Im Falle einer Neuinfektion soll der Körper dadurch befähigt werden, sich gegen einen neuerlichen Angriff zu behaupten, immun zu sein. Die passive Impfung dagegen versorgt den Körper mit bereits entwickeltem Immunmaterial und muss, um wirksam zu bleiben, erneuert werden.

Offenbar helfen nur diese fertigen Impfstoffe bei dieser Art Infektion. Aus diesem Grund arbeiten Sachverständige derzeit an einem entsprechenden Impfstoff.

Was hat es nun mit dem Begriff Virus auf sich? Lateinisch bedeutet virus Saft, Schleim, schließlich gar Gift. Es ist ursprünglich ein Neutrum: das Virus, Genitiv viri, Plural vira.. In der Umgangssprache setzt sich zunehmend statt des neutralen Fachterminus die maskuline Form der Virus durch. Virulenz, aus lateinisch virulentia bedeutet ursprünglich Giftigkeit, schließlich übertragen schädliche Aktivität, Ansteckung; entsprechend bedeutet das Adjektiv virulent „im negativen Sinne aktiv, ansteckend, giftig“. Die neuerdings gebräuchlichen Wörter viral, Viralität besagen „der rasanten Verbreitung eines Virus vergleichbar“.

Die neuartige Corona-Virus-Erkrankung Covid-19, ausgelöst duch das mutierte Virus SARS-CoV-2 ist eine Abkürzung von englisch severe acute respiratory syndrome coronavirus 2, (SARS-CoV-2)Corona virus disease, Corona-Virus-Erkrankung, des Jahres 2019, die andere von South-East-Respiratory-Syndrome-Corona-Virus-2.

Die Krankheit begann als Epidemie. Das ist eine Krankheit, die gleichzeitig und kurzfristig eine Vielzahl von Infizierten in einem abgeschlossenen Gebiet befallen hat. Das sagt die Vorsilbe epi-, ἐπί- mit einer räumlich und zeitlich begrenzenden Bedeutung – etwa bei und bis – aus.

Der Epidemie gegenüber steht die Endemie, wobei der Akzent auf der Begrenzung, innerhalb, liegt: ἐν, en, in. Auch die Betonung der Zeitlichkeit ist anders gelagert. Eine Endemie hat eher eine räumliche Betonung, sie betrifft also eine in einem bestimmten, prädestinierten Gebiet auftretende Krankheit, wie etwa Ebola oder Malaria.

Pandemie schließlich geht auf die griechische Vorsilbe παν-, pan-, ganz- zurück. So kommt die Bedeutung umfassende, globale, sich potenziell auf der ganzen Welt verbreitende Krankheit zustande. Die Voraussetzung einer Pandemie ist die Übertragung von Mensch zu Mensch, die erst nach der Übertragung durch den Zwischenwirt stattfindet, sodass sie schließlich per Flugzeug Kontinente überwinden kann. Sie bedarf also keiner exotischen Berührungen mehr, wie sie der Wildtiermarkt in Wuhan nahelegte. Das ist einerseits das besorgniserregende Merkmal der Ausbreitung des neuen Corona-Virus, das längst Grenzen übersprungen hat, andererseits aber auch hier, wie in seinem ursprünglichen Ausbreitungsgebiet, unauffällige Verläufe, unerkannte, symptomarme Fälle, zeitigt, die eine realistische Einschätzung seiner Ausbreitung erschweren.
(1) SARS bedeutet: Severe Acute Respiratory Syndrome /South East Respiratory Syndrome, ausgehend von Fledertieren
MERS bedeutet: Middle East Respiratory Syndrome, ausgehend von Dromedaren
Das neuartige Virus, das die Krankheit bewirkt, heißt SARS-CoV-2.Dabei bedeutet 2, dass ein andersgeartetes – ein neuartiges – Virus vorliegt, als bei bei SARS-CoviD(-1)
Die Krankheit – D = Disease – in ihrem gesamten Verlauf heißt SARS-CoviD-19. Dabei bedeutet 19, daß die Krankheit im Jahre 2019 erstmals auftrat.
(2) – Hier eine leichtverständliche grafisch unterlegte Darstellung über Wirkung und Funktion des Virus:
https://www.nytimes.com/interactive/2020/03/11/science/how-coronavirus-hijacks-your-cells.html
– Hier eine weitere, neuere, gut verständliche Darstellung über die Wege, die das Virus nimmt, um den menschlichen Körper tödlich zu schädigen:
https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-05/sars-cov-2-coronavirus-verlauf-lungenkrankheit-herz-blut-rachen

Schmetterlinge – taumelnd zwischen Tag und Traum

Riesen-Nachtfalter in Buea - Kamerun

Riesen-Nachtfalter in Buea – Kamerun – Foto: Prispaman Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International

Das Nachtlicht hatte ein taumelndes Insekt durchs offene Fenster angelockt. Ein wahrhaft furchterregendes: dunkel gezeichnete Flügel, der Hitze einer Halogenlampe mit schwerem, staubigen Flügelschlag trotzend. Todgeweiht. Das war das unabwendbare Schicksal des Verirrten.

Portrait der Gammaeule

Portrait der Gammaeule
Foto: Walter Eberl
© Walter Eberl / pixelio.de

Düster anmutende Nachtfalter sind nachtaktiv. Sie erscheinen uns wie unheimliche Gestalten, lautlos flatternd, dem lichtgewohnten Auge verborgen. Im Volksmund heißen sie „Eulen“. Wie diese tragen sie ein Kleid, das sie tagsüber mit ihrer Umgebung verschmelzen lässt; „Motten“ sind es, deren Flügelpaare über dem Rücken zusammengekoppelt sind, deren Behaarung und feine Gefiederzacken ihren Flug unhörbar wie den einer Eule machen. Ihre Augen sind groß, ihre Fühlerpaare dick, gezahnt, gesägt oder geweihartig. Nachtgestirne leiten sie, künstliches Licht überfordert ihre instinktgebundene Wahrnehmung bis zum Suizid. Dennoch sind sie Schmetterlinge wie Tagfalter, die uns als bunte Begleiter heller Tage entzücken.

Der Name des Schmetterlings hängt etymologisch mit der deutschen Verb schmettern nicht zusammen. Es würde auch kaum passen auf dieses anmutige Geschöpf. Schmetterling geht zurück auf das alte deutsche Wort Schmetten, Schmand. Das slawische Wort smetana, Sahne, zeigt dies noch immer. Das wird erkennbar in vielen landschaftlichen Namen, die auf eine unliebsame Bedeutung schließen lassen: Buttervogel, Molkendieb, Molkenstehler, Schmandlecker, englisch butterfly, „Butterfliege“, dänisch dagegen sommerfugl, wie auch im Schweizerischen Sommervogel. Dass man ihm vielfach etwas Hexenhaftes zuschrieb, hatte mit dem Sauerwerden der Milch nach seiner Berührung zu tun. Schmetterlinge wurden durch die Flüssigkeit angelockt und infizierten Milch und Sahne mit Keimen, die ihre Haltbarkeit zunichte machte.

Der französische Name des Schmetterlings ist papillon. Er entspricht dem lateinischen papilio. So charmant er klingt, deutet er doch nur auf eine biologische Besonderheit hin. Der medizinische Begriff Papille – etwa Zungenpapille – bezeichnet eine kleine warzenförmige Erhebung. Die dachziegelartig angeordnetenen farbigen Schuppen der Schmetterlingsflügel sind wie Papillen, welche ihre Farbschicht bilden. Die Farbe aber ist in Wirklichkeit eine optische Täuschung. Nicht tatsächliche Farbpigmente, sondern Lichtbrechungen, erzeugt durch eingelagerte chemische Stoffe, die das Sonnenlicht reflektieren, bewirken den visuellen Effekt von farbigen Flügeln.
Auch der Name Falter täuscht. Er bezieht sich nicht auf die Auffaltung der Flügel, sondern ist verwandt mit papilio, papillon und farfalla, dem italienischen Wort für Schmetterling. Dagegen mutet der altgriechische Name des Schmetterlings eher mythologisch an: ψυχή, psyche, Seele, was auf seine schwer fassliche Flatterhaftigkeit und Verletzlichkeit weist. Die Deutung des Schmetterlings als Symbol der Auferstehung, die Befreiung aus dem dunklen, unterirdischen Gefängnis des Puppendaseins ins helle Licht fliegend, gehört zu diesem Verständnis.

Schmetterlinge sind geflügelte Insekten. Der Name Insekt beruht auf dem lateinischen insectum, „das Eingeschnittene“. Entomologie, Insektenkunde, hat schließlich den gleichen Bedeutungshintergrund. Auf Griechisch heißt ἔντομον ,éntomon, „das Eingekerbte“. Beides sagt der deutsche Name Kerbtier aus. Damit gemeint ist die auffällige Teilung zwischen Brustteil und Hinterleib, was die „Wespentaille“ buchstäblich ausdrückt.

Schmetterlinge zieren sich mit ihrem geflügelten Paarungskleid, das sie nach einer oft lange währenden Larvenexistenz, dem Fressstadium, und nach einer Metamorphose in der nahrungslosen Enge des Puppenpanzers angelegt haben. Der Name Puppe entspringt dem lateinischen pupa, Neugeborenes. Die häufig an einem Gespinstfaden gürtelförmige Aufhängung des Kokons oder Chitinpanzers ist einem festgewickelt in einem Steckkissen aufbewahrten Baby vergleichbar. Daraus lässt sich auch ein etymologischer Zusammenhang zwischen pupa, Puppe, Baby und dem landschaftlichen „Bobbel(chen)“ herstellen.

Raupen des kleinen Fuchs

Raupen des kleinen Fuchs
Foto: Uschi Dreiucker
© uschi dreiucker / pixelio.de

Nach seiner Verpuppung, der organisch und optisch unglaublichen Umbildung der Larve zum fertigen Insekt, entpuppt es sich. Das Insekt beißt sich aus seiner Hülle und pumpt seine Flügel mit Flüssigkeit auf. Dieser Prozess der Entpuppung wird oft sprachlich übertragen verwendet. Metaphorisch ausgedrückt bedeutet „sich entpuppen“ sein wahres Gesicht zeigen, sich anders als erwartet verhalten, sich überraschend zu erkennen geben.

So „entfaltet“ durchstreift der Schmetterling seine Welt auf der Suche nach einem Geschlechtspartner, um seine Art zu sichern. Diese Existenzphase des Erwachsenseins heißt Imago – aus εἰκών , altgriechisch Bildnis, „Ikone“ -lateinisch Bild. Sie bildet den Gegensatz zum Stadium der Larve, lateinisch larva, Maske, Gespenst, und zu der schleierartigen Verhüllung der Puppe, altgriechisch νύμφη, Nymphe, Braut. Dieser Begriff weist auf die geschlechtliche Unfertigkeit und die baldige Erfüllung hin, bis sich der fertige Schmetterling seiner bräutlichen Hülle entledigt, um in neuer Gestalt sein Dasein zu vollenden.

Das Leben draußen in der Welt der Lüfte mit auffälligen Flügelpaaren ist gefährlicher noch als das der vielerseits begehrten eiweißreichen, mal mimikryhaft verborgenen, mal bunt gezeichneten, gehörnten, giftig oder widerborstig bewehrten Raupe.[1] Um Fressfeinden zu entkommen, fliegen Schmetterlinge in scheinbar ziellosem Taumelflug, Ihre obere Flügelzeichnung ist in aufgeklapptem Zustand oft eine schwer fassbare Mimikry.

Unter Mimikry versteht man in der Biologie eine Warn- oder Tarntracht, ein Äußeres, das Feinde abschrecken oder ihrem Auge unsichtbar machen soll.

Die meisten Nachtfalter sind mit einer Tarntracht ausgestattet kaum in ihrer Umgebung zu erkennen. So geschützt ruhen sie tagsüber – etwa an der farblich ähnlichen Rinde von Bäumen. Ihre nächtlichen Hauptfeinde sind Fledermäuse, die sich nicht optisch, sondern mit einer Ultraschallsensorik orientieren. Manche Nachtfalter sind dazu in der Lage, mit eigenen Störgeräuschen Ultraschall zu unterlaufen.
Eine typische Warntracht tragen Pfauenaugen, die, von oben betrachtet, mit ihren Augenflecken bedrohliche Gesichter nachahmen.

Mimikry bedeutet englisch Tarnung. Sie ist ein Teil der Mimese, zum Schutz vor Feinden.
In Mimesis, Mimese und Mimikry ist mimen, vortäuschen, darstellen erkennbar. Das altgriechische Wort ist μίμησις, mímēsis,, Nachahmung. Die Mimese verschafft einem Lebewesen einen Selektionsvorteil für seine Existenz und Fortpflanzung.

Das Pfauenauge schützt sich durch Zoomimese, abgeleitet von griechisch ζῷον, zoon, Lebewesen. Darunter versteht man die Annahme der Gestalt abschreckender Tiere. Eine andere Form der Mimese ist die Phytomimese – griechisch φύτον, phyton, Pflanze. Das ist die Nachahmung der Gestalt einer Pflanze: Zusammengeklappt erscheinen manche Falterflügel unbelebt wie ein geädertes welkes Blatt. Ein Beispiel ist das „wandelnde Blatt“, der Indische Blattfalter, mit einer perfekten Tarnung.

Kleiner Fuchs (Aglais urticae)

Kleiner Fuchs (Aglais urticae)
Foto: Böhringer Friedrich
Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 2.5 Generic

Ein bunter Schmetterling, der Kleine Fuchs, flattert im Sonnenlicht. Plötzlich ist er verschwunden. Er sitzt, kaum zu entdecken, mit zusammengeklappten Flügeln an einer Pfütze am Boden. Die Unterseite seiner Flügel ist dunkel, sie macht ihn fast unsichtbar. Ein Blick in die Runde gibt Gewissheit: Hier, in der Nähe hoher Brennnesseln zwischen Rhododendron und Ilex, ist seine Heimat. Seine in einem Gespinst gesellig lebenden Raupen, die behaarten Larven, ernähren sich von den Nesseln. Hier legt er seine Eier ab. Von hier kommt er selbst. Brennnesseln schützen ihn und seine Brut, denn wer wagt sich schon in dieses unwirtliche Gestrüpp? Seine Flügel sind orange-rot, schwarz abgesetzt und fein gefeldert und mit einem blassblau geperlten Flügelrand. Sein Leib ist dunkel und behaart. Das erklärt wohl seinen deutschen Namen „Fuchs“; sein zoologischer Aglais urticae bedeutet „Nesselschönheit“, aus griechisch Ἀγλαΐα , die Strahlende, benannt nach einer der drei Chariten, der die Anmut verkörpernden Grazien; lateinisch urtica ist die Brennnessel. „Unkraut“ wie Distel und Brennnessel mag Gärten verunzieren, aber vielen Schmetterlingen, Schönheiten wie dem Tagpfauenauge, dem Schwalbenschwanz und dem Admiral, bietet es einen abgeschirmten Lebensraum.

Viele Schmetterlingsarten nehmen in ihrem sichtbaren Dasein als Imago kaum noch Nahrung zu sich. Sie sitzen an Wasserlachen, um Mineralien aufzunehmen. Sie nippen am zuckerhaltigen Nektar nur ihnen zugänglicher tiefkelchiger Blüten, um ihre Energiereserven aufzufrischen.

Unübersehbar ist der während seiner Blütezeit im Spätsommer von Schmetterlingen umgaukelte Sommerflieder, der „Schmetterlingsflieder“. Phlox, Dost, Geißblatt und Lavendel, sowie Kräuter wie Thymian, Majoran und Basilikum sind ebenfalls eine Schmetterlingsweide – sogar auf dem begrenzten Raum eines Stadtbalkons.[2]

Die Lebensaufgabe eines Schmetterlings erfüllt sich mit der Fortpflanzung und Vermehrung, der Eiablage an Orten, die der Existenz und dem Schutz der Brut dienen.

[1]Eine sehr ausführliche Darstellung der Entwicklung und Abwehr von Feinden ist hier zu finden: https://schmetterlinge.wiki/lebenszyklus/larve/
[2]Hierfinden sich Tips für die Integration schmetterlingsfreundlicher Pflanzen in jede Art gärtnerischer Gestaltung:
https://www.derkleinegarten.de/gartengestaltung/ideen-finden/gartenstile/naturgaerten-und-oekogaerten/schmetterlingsmagneten.html

Steintauben und taubes Gestein – ist die Taube doof?

Panorama-Blick über den Fluss Dove Elbe bei Hamburg-Allermöhe

Panorama-Blick über den Fluss Dove Elbe bei Hamburg-Allermöhe – Foto: kaʁstn Disk/Cat / Lizenz: gemeinfrei

Ein Naturschutzgebiet im Süden Hamburgs, ein naturwüchsiger Auwald in den Elbniederungen, liegt an der Dove Elbe. Die Dove Elbe ist ein seit langer Zeit vom Hauptflusslauf abgetrennter, funktionsloser Seitenarm, dessen Stilllegung die Strömungsgeschwindigkeit des Hauptlaufs für die Schifffahrt und den Hamburger Hafen verbessern sollte. [1]

Das niederdeutsche Adjektiv dov bedeutet taub, leer. Wer taub ist, hat nur geringe Chancen, Informationen aufzunehmen und umzusetzen. Daraus ergibt sich die Bedeutung des umgangssprachlichen Adjektivs doof: betäubt, empfindungslos, begriffsstutzig, verwirrt. Damit hängt auch toben, im Schweizerischen gar tauben, also im ursprünglichen Wortsinne besinnungslos wüten, rasen, zusammen.

Die Figur der Taube, des „Täubleins“, der „Friedenstaube“, ist im Märchen und im Volksglauben das Symbol für Friedfertigkeit, Emsigkeit und und Selbstlosigkeit.

Betrachtet man das deutsche Wort für den Vogel Taube zunächst unter dem formalen Gesichtspunkt, ist eine Übereinstimmung mit taub kaum von der Hand zu weisen. Das niederdeutsche dov hat im Englischen das Pendant deaf, taub, und die englische Bezeichnung für Taube lautet dove.

Daraus könnte man einen Zusammenhang zwischen der Bezeichnung Taube und dem Adjektiv taub ableiten. „taub“ bedeutet im figürlichen Sinne gehörlos, verstockt, übertragen zunächst doof, also dumm, letztlich: interaktions- und kommuniktionsunfähig. Denn Taubheit, Gehörlosigkeit, impliziert Stummheit, Artikulationsschwäche. Damit unterstellte man der Taube diese Eigenschaften. Dabei sind Tauben – Felsen- oder Steintauben – eigentlich domestifizierte Haustauben, zu Straßentauben verwildert. Sie sind sozial organisierte Vögel, die in einer Kolonie vergesellschaftet leben. Sie sind ausgesprochen reaktionsschnell – zu beobachten, wenn sie in perfekter Formation fliegen[2]  , landen und wenden oder wenn sie sich auf befahrenen Straßen auf Futtersuche machen.

Orientierungs- und Heimfindevermögen, was gerade Brieftauben, die eigentlich zahme und abgerichtete Haustauben sind, auszeichnet, ist eine erstaunliche taubenspezifische Fähigkeit. Zu einem weit entfernten Ort gebracht, finden sie von sich aus den Weg zurück in den heimischen Schlag – „im Gepäck“, also am Bein oder Rücken befestigt, die von weither mitgebrachte Nachricht. Ihre Fähigkeiten sind ähnlich denen von Zugvögeln, deren Flugrouten sich am Magnetfeld der Erde zu orientieren scheinen. Doch ist das Geheimnis des Vogelzugs noch nicht vollkommen entschlüsselt.

Die Wortherkunft von Taube und taub zeigt also nur eine zufällige lautliche Übereinstimmung. Die Taube ist in vielen indogermanischen Sprachen nämlich nach ihrer dunklen Farbe benannt: „die Schwarzblaue“. Daraus könnte sich auch das alt-irische dub, schwarz, erklären. [3]

Das englische dove führt also auf eine falsche Fährte.

Der abgetrennte, ins Leere führende Flusslauf, die unnütze, leere – taube – Nuss, das nicht erzhaltige, leere – taube – Gestein, auch der nicht mehr reagierende, betäubte, entleerte Sinn, der verwirrte, als leer empfundene – doofe – Kopf – all das ist taub.

Das Substantiv Taube aber hat keine gemeinsame Sprachwurzel mit dem Adjektiv taub. Ihre scheinbare Übereinstimmung in beiden Begriffe speist sich aus unterschiedlichen sprachgeschichtlichen Quellen, dem niederdeutschen dov für taub, leer und dem indogermanischen Gemeinbegriff für die Taube, charakterisiert durch ihr blauschwarzes Federkleid.

[1] Wikipedia – Dove Elbe

[2] Spektrum.de – Navigationstalent macht noch keinen Schwarmführer

[3] Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm – TAUBE

Das Hendiadyoin – eine rhetorische Paarformel

Denkmal zur Erinnerung an den angeblichen Import der sieben freien Künste nach Aachen durch Karl den Großen

Denkmal zur Erinnerung an den angeblichen Import der sieben freien Künste nach Aachen durch Karl den Großen
Foto und Bildrechte: Norbert Schnitzler / GNU-Lizenz für freie Dokumentation

Stilfiguren dienen der Anschaulichkeit eines Textes. Als rhetorische Figuren sollen sie die Aufmerksamkeit des Hörers binden. Sprachliche Figuren sind zu Bildern geronnene Worte. Sie sind Stilmittel, die in Bilder übertragen vor dem inneren Auge eine lebendige Gestalt annehmen. Das griechische Wort für eine solche Übertragung ist Metapher.

Eine dieser rhetorischen Figuren ist das Hendiadyoin. So schwierig die Aussprache ist, verweist sie ins klassische Altertum, die Wiege der Rhetorik als Kunst.

Das Hendiadyoin setzt sich aus drei schlichten altgriechischen Wörtern zusammen: hen dia dyoin, ἓν διὰ δυοῖν, die „eins durch zwei“ bedeuten. Ausgedrückt wird damit, dass zwei formelhaft miteinander verbundene figürliche Begriffe einen einzelnen abstrakten so veranschaulichen, dass er zu einer komplexen Aussage wird. Dies ist rhetorische Absicht, denn erst die prägnante Zwillingsformel erzeugt Resonanz. Es entsteht eine gleiche Struktur durch phonologische Reime – Lug und Trug, rank und schlank, mit Sack und Pack -, durch Alliteration – frank und frei, klipp und klar, Heim und Herd, Haus und Hof, in Bausch und Bogen, mit Rat und Tat, mit Schimpf und Schande, mit Mann und Maus – oder durch Synonyme – hinter Schloss und Riegel, in Sack und Asche, nicht Glück noch Stern, in Treu und Glauben. Würde nur eines der beiden Elemente gebraucht, ginge durch den Verlust der Bildhaftigkeit auch die Abstraktionsebene der Gesamtbedeutung verloren.

Ein weiteres Merkmal des Hendiadyoins ist die Metapher, also die Übertragung eines Sachverhalts in ein Bild, die erst in der Zwillingsformel des Hendiadyoins wirksam ist. Ein Beispiel ist das hierzulande allgegenwärtige „Feuer und Flamme für Olympia“. Es bezieht sich in doppelt bildhafter Weise auf die Begeisterung für die Olympischen Spiele in Hamburg – also das olympische Feuer, entzündet durch die von weit her gebrachte olympische Flamme.

In der rhetorischen Analyse zeichnet sich die Metapher „Feuer und Flamme“, begeistert, durch ihre Untrennbarkeit aus, denn der Verlust eines der beiden Elemente ließe das Bild des leidenschaftlichen inneren Brennens in sich zusammenfallen. Die Metaphorik stellt sich also erst durch die rhetorisch erklügelte Verdoppelung her.

Entscheidend für eine Definition als Hendiadyoin ist, dass ein gewöhnlicher Ausdruck verbunden mit einem sinnverwandten Gegenstück verstärkt wird wie durch ein herkömmliches Attribut. Dieses scheinbar pleonastische Kennzeichen macht das Hendiadyoin rhetorisch zum „Ohrenschmeichler“ und „Ear-Catcher“.

Das Hendiadyoin ist ein Stilmittel, das ein konkretes, eingängiges Zwillingsbild zur Paarformel ummünzt, um ein komplexes Verständnis einer abstrakten Situation zu erzeugen.

Der Kuckuck – ein Brutparasit mit fürsorglicher Strategie

Cuculus canorus

Cuculus canorus
Foto: Locaguapa
Lizenz: Creative Commons

Der Kuckucksruf ist ein Frühlingsbote, der von der wiedererwachten Natur in Feld und Wald kündet. Kinder, die in weißen Kleidern die Dorflinde umtanzen, und bunte Blumen, die die braune Heide zieren, treten vor das wintermüde Auge.

Der Ruf dringt nicht vom Wald, sondern herauf aus dem innerstädtischen Hinterhof. Ehedem bestand er aus Kleingärten. Jetzt ist er ein grüner Ausblick von der Höhe eines fünfstöckigen Altbaus. Da hat sich der schnellwüchsige Bergahorn ausgebreitet, eine knorrige Robinie schickt sich an, ihre stachelige Kahlheit zu ummänteln. Kaum zu glauben, dass sie, die Unbiegsame, sich schon bald mit Trauben weißer Blüten schmücken wird, die mit fortschreitender Nacht exotische, schwere Düfte verströmen sollen. Unter Efeulast brachen einst ranke Birnbäume, deren letzte Blütezeiten verblassten, während in ihre immergrünenden Kronen werbende Waldtauben einzogen.

So traute ich meinen Ohren nicht, als der Ruf eines Kuckucks sich in das Gurren der Tauben mischte.

Die Ringeltauben, erkennbar an  den weißen Halsringen, sind allgegenwärtig in den Stadtgärten. Unter ihren schweren Körpern biegen sich die Zweige, sommers die belaubten, winters die kahlen, frostspröden. Unerschütterlich bevölkern sie ihre grünen Gevierte aus Stadthäusern – vermeintliche Waldtaubenschluchten.

Der kleine Kuckuck aber blieb unsichtbar. Wer hat ihn je gesehen? Er verbirgt sich vor Mensch und Tier. Und das hat gute Gründe.

Die gründen tiefer, als unser Menschengedächtnis wohl währt. Ein Sonderfall der Evolution. Alle Lebewesen wollen überleben, ihre Nachkommen schützen, ihr Erbgut erhalten und vermehren. Dafür haben sie unterschiedliche Strategien entwickelt. Immer aber geht es um die Sicherung der Art. Der Nachwuchs soll sie gewährleisten, sei es durch Menge oder besondere Brutpflege und Nestschutz. Schmarotzer, Parasiten, aber profitieren von der Lebenskraft anderer Spezies.

Kuckucke sind ein Unikum in der Vogelwelt, sie sind Brutschmarotzer. Das zwingt sie zur Vorsicht und Heimlichkeit. Der Kuckuck späht die Nester kleinerer Vögel aus. Das könnte in unserem Fall eine Grasmücke [1] sein, ein graziler Singvogel mit einem zartgliedrigen Nest aus trockenen Halmen. Es ist das Nest jener Art, die bereits seine eigene Kinderstube bereitet hatte, also seinerzeit die Zieheltern der jetzt erwachsenen Kuckucksmutter waren. Denn wie sonst könnte der Kuckuck sicher sein, dass sein Nachwuchs stark genug sein würde, sich gegen die Futterkonkurrenten durchzusetzen? Wie sichergehen, dass er richtig ernährt würde, dass sein Ei farblich in das Brutschema des Wirtsvogels passte? Das Nest muß bezogen sein, Eier müssen bereits darin liegen, um die Brutbereitschaft der auserwählten Vogeleltern anzuzeigen.

Und jetzt kommt eine weitere Raffinesse des Brutparasiten ins Spiel: Der Kuckuck, fast taubengroß, ähnelt im Flug mit seinen angelegten Flügeln einem Sperber oder Turmfalken. Diese Tarnung, eine Art Mimikry, veranlasst die Singvögel, deren Nest ausgespäht wurde, dazu, in Deckung zu gehen. So kann der Kuckuck in Ruhe seinem kurzen, wechselvollen Brutgeschäft nachgehen. Das  Nest wird ausgeräumt und ein Ei hineingelegt. Es ist ein wenig größer aber farblich abgestimmt auf die rechtmäßigen Nestbewohner, ein Effekt der Wirtstreue in langwährender evolutionärer Entwicklung, der das Kuckucksei tarnt. Das zukünftige Kuckucksjunge wird wenig früher schlüpfen als die Nestgeschwister, um dann so groß und stark sein, dass kein anderes Küken neben ihm überleben wird. Die Geschwister schlüpfen, wenn überhaupt, später. Dann haben sie das Nachsehen neben dem kräftigen Stiefküken.

Das also ist das Überlebensgeheimnis des Kuckucks, der sich nicht um die eigene Brut kümmert: Die Brutzeit ist kürzer als die der eigenen Brut des Wirtsvogels. So ist das fremde den eigentlichen Jungen bereits in seiner Entwicklung voraus. Seine Stärke, gepaart mit einem speziellen angeborenen Durchsetzungsverhalten, läßt den Jungvogel die Nestgeschwister aus dem Nest drängen. Sein aufgesperrter, orange-geränderter Schnabel ist der Schlüsselreiz, spezifische Bettellaute ein Signal, ihn unermüdlich bis weit in die Zeiten des Flüggewerdens zu füttern, sodass sich ncht einmal andere Vogelarten diesem Reizschema entziehen können und sich an der Fütterung beteiligen.
Die genetische Mutter beobachtet im Verborgenen die Aufzucht der Brut.

Kaum ist der Jungkuckuck groß, geht es auch schon wieder auf die Heimreise. Die wahre Heimat der Zugvögel ist ja anderswo. Der kurze Aufenthalt hier währt gerade für die Zeit des Paarens und der Brut. Dann ruft ein unwiderstehlicher Zugzwang auch die herangewachsenen Jungvögel fort. Denn bald neigt sich das Nahrungsangebot und der Rückflug ins ferne, 9000 km entfernte Afrika – die eigentliche Heimat des heimischen Kuckucks – steht wieder bevor.

Aber wie sich die raren und scheuen Kuckucke für den Zug rüsten, wo sie sich sammeln, wie sie sich organisieren, wo sie rasten, um die Reise zu überstehen, das bleibt im Dunkel. Ob sie mit ihren Wirtsvögeln fliegen, wie sie zueinander finden, ob ihre Ziele mit denen der „Eltern“ übereinstimmen?

Der Kuckucksruf, für uns der Vogellaut, der den Mai begleitet, ist der Werbeschrei des Kuckucksmännchens. Deshalb verstummt er, wenn diese Suche erfüllt ist und die des Weibchens nach dem passenden Nest begonnen hat.

[1] Kleine Singvögel wie Rohrsänger, Pieper, Bachstelzen, Braunellen, Neuntöter, Zaunkönig und Rotschwänze oder Grasmücken sind bevorzugte Wirte. Wie der Kuckck sind es Insektenfresser. Deshalb ist die Auswahl des passenden Nests kein Zufall.

Kopulapartikeln

Unter Kopulaverben versteht man Verben, die für sich genommen keine, oder allenfalls eine schwache, verbale Aussage haben und daher, um eine Aussage zu transportieren, mit einem Prädikativ verbunden werden.

Kurz erdensie auch Kopula genannt. Darin erkennt man das Verb kopulieren,en Begrff der eine sexuelle Vereinigung ausdrückt. Auf Menschen angewandt bezeichnet er herz- und seelenloses triebhaftes Tun. Abgeleietet ist es aus lateinisch cōpulāre ‘verknüpfen, zusammenbringen, vereinen’.

Die typischen Kopulaverben sind sein, werden, bleiben, machen und andere, die in einer synonymen Aussage deren sinngemäßen Charakter annähernd annehmen können. Dazu zählen sich zeigen, erscheinen, wirken, zurücklassen, zurückbleiben, sich erleben, sich erfahren, sich befinden, ebenso kann man dazu zählen die Verben der sinnlichen Wahrnehmung wie fühlen, hören, sehen, etw. finden, empfinden.

In engem grammatischen Zusammenhang mit Kopulaverben stehen Kopulapartikeln.
Partikeln, deren Singular die Partikel, aus lateinisch particula, f, das Teilchen, lautet und daher auch mancherorts im Plural Partikulas heißt, sind unveränderbare Wörter wie Adverbien, Artikel und Präpositionen.

Kopulapartikeln sind also unveränderliche Wörter, die als adjektivische Ergänzungen, nicht aber attributiv , bei einem Substantiv stehen können. Ebenso verweigern sie sich einer Steigerung. Sie werden prädikativ gebraucht.

Ein Prädikativ ist ein Adjektiv, das in dieser Funktion endungslos ist, während ein Adjektiv üblicherweise gekennzeichnet ist als attributiv und komparabel, also flektierbar.

Beispiele:

Der Baum ist grün. vs. der grüne Baum
Du machst mich glücklich. vs. glücklichere Fügung
Er bleibt unzufrieden. vs. ein unzufriedener Gast
Das erscheint vernünftig. vs.die vernünftigste Lösung
Du lässt mich traurig zurück. vs. ein traurigeres Lied

Neben Adjektiven können zu den Kopulaverben adjektivähnliche, aus Substantiven abgeleitete, unflektierbare Partikeln treten. Von diesen gibt es nur wenige und von Sprachbewussten heftig verteidigte. [1]

Die eine Gruppe der hervorstechendsten Kopulapartkeln sind leid [2], gram, angst, schuld, die Konversionen, Umbildungen von Substantiven zu Adjektiven, sind. Sie haben ihre Eigenständigkeit als Substantive verloren und werden als verblasst empfunden. In Verbindung mit anderen Verben, schließlich auch mit einem Attribut versehen, sind sie wörtlich zu verstehen.

Die andere Gruppe von Kopulapartikeln haben substantivische Gegenstücke, deren verblasste Abbilder sie sind: leid (bitter leid), schuld, feind (spinnefeind), freund (gut freund), angst (und) bange, not, recht, ernst, schade (jammerschade), tabu, willens, bankrott und pleite. [2] Es sind die gleichlautenden Substantive Leid, Schuld, Feind, Freund. Angst, Bange, Not, Recht, Ernst, Schade(n), Tabu, Willen, Bankrott, Pleite, aus denen sie sich bedeutungsmäßig erschließen.

Auch zwischen diesen sind Unterschiede auszumachen. So sind recht, bange, ernst neben ihrer substantivischen Form auch veränderlich – attributiv oder steigerbar – als Adjektiv, üblich, währenddessen gram, leid, schuld, freund und feind zumindest als Adjektive verblasst sind. Das Adverb leider ist seiner Form nach eine verblasste Form eines Komparativs.

Im Gegensatz zu ihren substantivischen Gegenstücken lassen sie sich leicht mit Abönungspartikeln wie gar, ganz, sehr, fast, schon, bald beinah, nahezu, etwas, wohl, nur, bloß, genauso verbinden. [3] Darin unterscheiden sie sich vornehmlich als verblasste Form von ihren substantivischen Ursprüngen.

Beispiele:

Es tut mir sehr leid. Du tust mir großes (nicht: sehr) Leid an.
Mir wurde ganz/sehr angst. Ich habe große (nicht: ganz/sehr) Angst.
Du hast ganz/ sehr/ fast/genauso/völlig recht. Du hast mit vollem (nicht: ganz/sehr/fast/genauso/völlig) Recht gehandelt.
Wir sind uns etwas feind. Er ist mein heimlicher (nicht: etwas) Feind.

Das Substantiv Gram bedeutet Kummer. Es wird selten und selektiv, teils hochsprachlich, teils ironisierend gebraucht und ist veraltend. Es kommt weiter vor als Kompositum gramgebeugt, gramgezeichnet oder vergleichbaren präpositionalen Fügungen von Gram gebeugt, – gezeichnet.
Pleite ist ein umgangssprachlicher Ausdruck aus der Gaunersprache für Zahlungsunfähigkeit.

Beispiele:

Die Trennung brachte ihm großes Leid.
Sie war von tiefem Gram gezeichnet.
Das macht mir große Angst.
Sie trägt keine Schuld am Versagen.
Die Pleite war absehbar.
Er ist mein bester Freund.
Er bleibt mein liebster Feind.
Wir leiden Not.
Hab keine Bange!
Es soll nicht zu deinem Schaden sein.
(Das) Recht muss Recht bleiben.
Das Tabu muss gebrochen werden.
Alle Menschen guten Willens …

Anwendungsbeispiele für die entsprechenden Kopulapartikeln:

Es tut mir leid. Das ist mir leid. Es wird dir bitter leid werden.
Du bist nicht schuld. Ich habe daran schuld.
Sei mir nicht gram. Ich werde dir deshalb nicht gram.
Mir ist angst. Uns wird angst und bange. Es macht mir himmelangst.
Er ist pleite. Ihr geht pleite.
Wir bleiben gut freund. Ich weiß nicht, ob er mir freund oder feind ist.
Wir sind uns noch immer feind. Sie ist mir spinnefeind.
Das tut nicht not. Es ist bitter not.
Lass dich/ dir nicht bange machen.
Das finde ich schade. Es ist sehr schade darum.
Du hast (sehr, ganz, völlig) recht. [Auch:Du hast Recht. Du bist im Recht.] Das ist recht gemacht. Das geschieht dir völlig recht.
Es ist mir (völlig) ernst. [Es ist mein (voller) Ernst.]
Das ist tabu und bleibt tabu.
Dazu bin ich nicht willens. Ich bleibe willens, zu …

Neben ihnen stehen unveränderliche Adjektive wie quitt, egal, alle, klasse, prima, spitze, super, hip. Auch sie haben einen umgangssprachlichen Charakter. In diesem Kontext gesprochnener Sprache werden so immer wieder frische Kopulapartikeln gebildet, die aus Substantiven abgeleitet werden. Beispiele dafür sind wurscht/ wurst, schnuppe, juckepulver,die egal, einerlei bedeuten.

Daneben finden sich insbesondere unveränderliche Farbadjektive wie lila, rosa, bedingt auch beige, pink, mauve, die allerdings in attributiver Verwendung gebeugt werden, sobald sie sich der deutschen Morphologie fügen, wie man an dem englischen Adjektiv cool ersieht: Ein cooles Fahrrad.

Neben den beschriebenen klassischen Kopulapartikeln lässt der Gebrauch einiger Unflektierbarer – trotz ihrer formalen Flexionsfähigkeit – sie praktisch zu den Kopulapartikeln rechnen. Es sind die folgenden abhold, abspenstig, anheischig, ausfindig, getrost. Auf der Schwelle zum Adverb sind vor allem die folgenden: allein, wohl, wohlauf, barfuß, egal, einerlei

Diese nicht flektierbaren Wörter sind Derivate unterschiedlicher Herkunft. Die Wörter, auf die sie sich beziehen, sind in ihnen verblasst. Die formalen Adjektive abspenstig, ausfindig zeigen ihre adjektivische Herkunft an dem adjektivischen Suffix -ig. Das negierende Adjektiv abhold hat zwar ein Positiv hold, lieb, schön, als Gegenbegriff, wird dennoch nur in der festen prädikativen Fügung abhold sein, abgeneigt, gebraucht. Diese prädikative Fügung existiert allerdings auch als Positivum, hold sein, wohlgesinnt sein, z. B. in der Wendung “Das Schicksal ist mir hold”, das bedeutet: “Das Schicksal meint es gut mit mir”.

Das Adjektiv egal widersetzt sich morphologisch, vielleicht aber auch inhaltlich, einer Beugung und Steigerung. Wohlauf unterscheidet sich von wohl, das als Adverb steigerbar ist: Bist du wohlauf? Ist Dir wohl? Mir ist jetzt wohler.

Auch allein entzieht sich inhaltlich einer Komparation. Im speziellen Falle etwa: Ich bin allein, aber du bist noch einsamer. muss man auf ein adjektivisches Synonym zurückgreifen. Das unflektierbare Adjektiv ist als vorangestelltes Attribut nicht einsetzbar.

Barfuß leitet sich ab aus dem Substantiv Fuß und dem Adjektiv bar.Dieses ist im Wesentlichen auf wenige Zusammenhänge beschränkt: bares Geld, Bargeld, und barhäuptig, bloß, unbedeckt. Daneben bedeutet bar mit Genitiv als Präpostion ohne, z. B. bar aller Vorsicht, ohne Vorsicht.

Das unveränderliche ursprüngliche Partizip getrost, “getröstet”, mit der Bedeutung hoffnungsvoll , kommt ebenso nur prädikativ vor: Seid getrost!

Die Definition eines Adjektivs orientiert sich an seinem attributiven Gebauch und seiner grammatischen Steigerungsfähigkeit. Grammatisch steigerbar ist ein formales Merkmal. So lässt sich das Adjektiv tot, inhaltlich betrachtet, nicht steigern, dagegen formal schon.

Attributiv gebrauchen lässt sich ein Adjektiv in zweierlei Position: Vorangestellt nennt sie sich Anteposition; hier richtet sich das Adjektiv nach seinem Beziehungswort. Es wird flektiert. In der Postposition jedoch, nachgestellt also, einer Apposition vergleichbar, wird es unflektiert gebraucht.

Beispiele:

Die Kinder, getrost, denn sie hatten Brotkrumen ausgestreut, glaubten nach Hause zurückzufinden.
Der Wind, schuld an der Verirrung, hatte sich gelegt.
Ein Mütterchen, alt und gram, kam aus der Tür.
Der Vater, seiner grausamen Frau leid, hoffte, seine Kinder heil wiederzufinden.
Alle beide, angst und bange ob der hereinbrechenden Dunkelheit, suchten Schutz in dem Hexenhaus.

In diesen beschriebenen Zusammenhängen sind einige Kopulapartikeln adjektivisch einsetzbar. Das macht eine Definition als Adjektiv denkbar und begründbar. [4]

[1] Sie unterlagen gerade in der Debatte um die Rechtschreibreform heftigen Kämpfen, weil sie aus ihrer verblassten Rolle, die ihre Aussage längst der ursprünglichen Figürlichkeit enthoben hatte, in die Funktion eines groß zu schreibenden Substantivs zurückgeführt werden sollten.

[2] Zum Wandel und der Geschichte der Schreibweisen des Infinitivs finden sich Hinweise in der folgenden Tabelle:

bis 1996 1996 bis 2004 2004 bis 2006 seit August 2006
——————————————————————————————————————-
bankrott gehen Bankrott gehen Bankrott gehen bankrottgehen
pleite gehen Pleite gehen Pleite gehen pleitegehen
leid tun Leid tun Leid tun
oder leidtun leidtun

Quelle: korrekturen.de http://www.korrekturen.de/rezensionen/wahrig_die_deutsche_rechtschreibung.shtml

In Anbetracht der Parallelen zu der getrennten Schreibung der anderen Kopulapartikeln und -verben, plädiere ich im nichtdienstlichen Schriftverkehr für die Schreibweisen, die bis 1996 gültig waren.

[3] Diese Abtönungspartikeln können sich auch als Adverbialia auf den ganzen Satz beziehen, sind deshalb nur sinngemäß oder idiomatisch verwendbar, nicht aber immer beliebig austauschbar.

[4] Igor Trost, Das deutsche Adjektiv S. 151 ff

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http://www.blog1.institut1.de:80/kopulapartikeln/

Von Hamburg nach Sylt – will ich zurück nach Westerland?

Westerland Musikmuschel

Westerland Musikmuschel – Foto: Magnus Manske Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported

Ich war noch nie auf Sylt. Sylt war mir immer ein Mythos. Irgendwie Luxus und Eleganz. Dahinter musste ja eine besondere landschaftliche Schönheit verborgen sein, dachte ich.

Bis zum letzten Sonntag.

Früh um sechs in der S-Bahn. Die Betriebsamkeit von Werktagen ist fern. Zwei Mädchen im Konfirmandenalter sind auf dem Heimweg und begutachten ihre übernächtigten Züge in den verkratzten Scheiben. Sie sind in dem Alter, wo man sich in gleicher Aufmachung sicherer fühlt: Lange Haare umrahmen Gesichter mit jugendlichem Schmelz, modische Tops bis über die Hüften, Ballerinas an den Füßen, die Rehbeine in schwarzen Leggings – je dezent zerrissen, ob Absicht oder Trend, das entzieht sich inzwischen meiner Kenntnis.

Es ist einfach, nach Sylt zu gelangen von Hamburg aus. In Altona besteigt man die Nord-Ostseebahn, eine Privatbahn mit schmucken Waggons, verbindlichem Personal, präziser Information und artigen, airlineentlehnten Sätzen.

Die Wettervorhersage verhieß Gutes für die Insel. Noch vor Sonnenaufgang schritt ich im Morgennebel einen langen, verlassenen Bahnsteig ab bis zur einsamen Spitze des wartenden Zuges. Altona ist ein Kopfbahnhof. Da fahren alle Züge aus einer Richtung ein und entgegengesetzt wieder aus. Mit der S-Bahn unterwegs über Altona und Blankenese nach Wedel wechselt man auf diese Weise zweimal die Blickrichtung. Denn der gleiche Ablauf wiederholt sich in Blankenese.

Eine ausgeschlafene Rentnergruppe mit Rucksäcken findet sich ein, auch das blau-gelb uniformierte Zugpersonal, schließlich noch eine Handvoll Reisender, die sich in der Wagenvielzahl verliert.

Mit meinen Reisegefährten – einem Mann und einer Frau – besteige ich den Zug, und ab geht die Fahrt nach Norden durch das nebelverhangene, öde Flachland um Elmshorn und Itzehoe, schließlich über die Nord-Ostsee-Kanalbrücke als einzige Erhebung, durch Dithmarschen – Heide und Husum. Unser gutgelaunter Reiseführer weist auf Storms “graue Stadt am Meer” hin. Er kennt sich aus. Er fühlt sich sogar für das Wetter zuständig, und zuversichtlich macht er selbst für die Pfützen, die hier und da auf dem feuchtglänzenden Asphalt einen tiefen Himmel spiegeln, den Herbstnebel verantwortlich.

In Westerland angekommen, auf pittoreske Reetdachhäuser hoffend, werde ich zuerst mit giftgrünen, aus der Vertikale geratenen Riesenskulpturen konfrontiert. Meine Begleiter witzeln über die Gewalt des Nordseewindes. Eine Fußgängermeile führt geradewegs zum Meer. Überwiegend ist sie gesäumt von Stehcafés – um einen besseren Durchlauf zu gewährleisten, wie mir schwant. Noch richtet das Personal das erhöhte Gestühl, es wird gefegt und gewischt, Decken bereit gelegt.

Die Straße mündet in ein verheißungsvolles Tor – wie bei Goldmarie und Pechmarie. Da ist die Kurtaxe fällig. Dahinter liegen Strand und Meer bis zum Horizont. Auch die Promenade und die Tribüne für das Kurkonzert in einer unsäglichen Muschel. Ein Ensemble osteuropäischer, sonnenbebrillter Künstler im schwarz-roten Outfit spielt ein Potpourri von Alexandra bis Mozart. Ich stelle mir vor, dass es Symphoniker sind, die sich über die Sommermonate hier verdingt haben und eisern ihr Programm mit gefälligen Gesangseinlagen absolvieren.

Gesichtsgebräunte Rentner in heller Freizeitkleidung sind um diese Zeit in der Überzahl. Man trägt Perücke oder Prinz-Heinrich-Mütze. Beides windfest. Man übt ein paar Tanzschritte oder wiegt sich im Takt. Frisierte Hunde werden vorübergeführt.

Am nördlichen Rand des verhangenen Himmels öffnet sich zögernd ein blauer Streifen.

Und schon vertreibt die Sonne Dunst und Wolken und verklärt den Oktoberhimmel. Ein paar Sturmvögel untersuchen den strandgutbefreiten Strand nach Brauchbarem. In der Brandung tummeln sich, glänzenden Haifischen gleich, dunkle Gestalten – Wellenreiter in Neoprenanzügen. Ein paar Drachen steigen auf. In großen Bögen benetzen die gebrochenen Wellen den Sand. Die rhythmisch-züngelnde Bewegung des auflaufenden und ablaufenden Wassers um mich herum ist schwindelerregend, meine Füße drohen im nassen Untergrund ihren Halt zu verlieren.

Nun, nachdem klar ist, dass eine Strandwanderung in dem künstlich aufgeschütteten Sand über meine Kräfte gehen würde, strecke ich mich ergeben in meinem Strandkorb aus – windgeschützt, die wie aus dem Nichts sich bald aufbauenden Wellenkämme vor Augen und in den Ohren das Geräusch der bald umkippenden Brandung, bis mir die Lider schwer werden.

Als die Sonne sinkt, ist noch ein letzter Programmpunkt zu erfüllen: der Besuch eines einschlägigen Fischimbisses. Der Ablauf beeindruckt mich. Angesichts einer verglasten Theke wählt man den Fisch, der einem zusagt, aus. Gelassene junge Männer bereiten ihn auf einer riesigen heißen Fläche vor aller Augen zu. Dazwischen werden die Bratkartoffeln und Zwiebeln hin und her geschoben, die Teller angerichtet. Trotz der Enge, in der die Köche hantieren, kommt sich niemand in die Quere, so leicht und sicher ist jede Geste, jeder Wink, aufeinander abgestimmt. Ist das Gericht fertig, wird die Nummer ausgerufen, die der Kunde bei der Bestellung erhalten hat. Ich hatte mich dem Luxus verschrieben und überbackene Jakobsmuscheln genommen.
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Hegestraße Hamburg mit ungebrochenem Charme


Nur selten werden Einkaufsstraßen außerhalb der City von Nebenstraßen gekreuzt, die ihrerseits eine Vielzahl von Geschäften beherbergen. In Hamburg findet man sie in Winterhude, da treffen die Gertigstraße und der Poelchaukamp auf den Mühlenkamp. Im Schanzenviertel ist die Susannenstraße die Verbindungsstraße zwischen Schulterblatt und Schanzenstraße. Im Uni-Viertel Rotherbaum mündet der Grindelhof auf die Grindelallee. Ein weiteres Beispiel ist die Hegestraße. Sie führt auf den Eppendorfer Baum.

Der Name Hegestraße, auch der ihres kleinen Ablegers Hegestieg, deuten darauf hin, dass sich an diesem Ort einmal ein Forst befunden hat, den es zu hegen galt. Allerdings wird dieser Forst eher von der morastigen Sorte gewesen sein, denn alle Anzeichen sprechen dafür, dass Eppendorf auf moorigem Grund liegt. Es gibt Kanäle, Isebek und Tarpenbek, die das Wasser aufnehmen. Sie münden in die Alster. Sogar ein veritables, etwas schauriges Moor, das Eppendorfer Moor, befindet sich mitten in der Stadt.

Die Hegestraße kreuzt den Eppendorfer Baum. Er scheidet unmerklich die Stadtteile Eppendorf und Hoheluft voneinander. Also gehört der südliche Teil der Hegestraße, der auf den Lehmweg trifft, bereits zu Hoheluft, während der andere, der nördliche, der zur Kellinghusenstraße führt, zu Eppendorf zählt.

In den siebziger und achtziger Jahren reihten sich in der Hegestraße allerlei verträumte Krämer- und Trödelläden aneinander. Die haben sich leider davongemacht. Nun ist sie Ziel verschiedenster Konsumentengruppen: der Bildungshungrigen, der Hungrigen und der Modehungrigen.

Hier steht das Gymnasium Eppendorf. Es ist keine Gelehrtenschule wie das Johanneum, keine Gesamtschule wie die Ida-Ehre-Schule, die unweit – im Lehmweg – ein wohlausgestattetes Oberstufenhaus führt. Früher war das Hegegymnasium eine Oberrealschule für Jungen, aber im Zeichen von Koedukation und Kooperation ist daraus ein klassisches Gymnasium modernen Anstrichs geworden. Es wirkt bodenständig und bürgerlich, geordnet und gediegen. Die alte Garde gymnasialer Nonkonformisten dürfte hier in der Minderheit sein. Betritt man das Schulgebäude durch das schwere Eingangsportal, ist man in seinem Inneren von der Feuerzangenbowlen-Pracht ausladend geschwungener Treppenaufgänge beeindruckt.

Ein Anlaufpunkt ganz anderer Art ist das in unmittelbarer Nachbarschaft gelegene “Petit Café”. Es ist eigentlich gar nicht so klein, aber der Name hat sich von seinem winzigen Vorgänger in der Eppendorfer Landstraße erhalten. Dieses Café weist zwei Besonderheiten auf, die es von der Vielzahl der Cafés der Umgebung unterscheiden. Es ist das zunächst wohl aus der Not geborene anheimelnde Sammelsurium, das an die unkonventionelle Vorläufigkeit der siebziger Jahre erinnert, und der nicht minder anrührende Duft nach frischgebackenem Kuchen, der das Café von der am hinteren Ende gelegenen Backstube durchweht. Diese simplen, frischen Hefeblechkuchen mit Obst und Streuseln – Schlagsahne nicht zu vergessen – haben ein altertümliches, fast wehmütiges Arom angesichts des üblichen Großbäckerei-Fertigkuchens. Ein türkischer Bäcker sorgt den lieben langen Tag für den Nachschub des begehrten Backwerks.

Cafés haben zusammen mit allerlei Kaffee-Creationen ein wahres Come-back erfahren. Die Kaffee-Manie gipfelte schließlich jenseits von entspannter Kaffeehaus-Atmosphäre in einem hektisch im Gehen eingenommenen Coffee-to-go. Manch moderner Kinderwagen ist bereits mit einer Halterung für den wohlverschlossenen, mundstückversehenen Pappbecher ausgestattet, damit man in der Zwischenzeit zum Handy greifen kann. Eine gewisse Unsicherheit schwingt mit, ob die Halterung nicht – als eine Babyflaschenhalterung gedacht – umfunktioniert wurde.

Cafés geben Frauen in den besten Jahren, den berufslosen mit Kinderwagen, den berufstätigen im Business-Outfit, eine Chance, standesgemäß einzukehren. Anderen bietet sich die Gelegenheit zu Blind-Date, Kaffeepause, Plausch, Small-Talk. Der entscheidende Fortschritt daran ist, dass sich Frauen nach den langen Kneipenjahren, wo sie sich beim Erscheinen ohne Begleitung seelisch aufrüsten mussten, hier ganz ungezwungen bewegen können. So wie in den fünfziger und sechziger Jahren, als das Café und die Konditorei eine Domäne der Damenkränzchen war.

Demgegenüber ist es dennoch ein Verlust, dass die Szenekneipen, das Gegenmodell zu den Eckkneipen, ausgestorben sind. Mitten in der Hegestraße befand sich das hochfrequentierte “Schröder”. Da standen noch nachts um zwei die Leute scherzend vom Eingang bis auf die Straße. Eine Kneipe mit angemessen dunklen Wänden, engen Winkeln, spärlich mit Kerzen beleuchtet. Es war verraucht, groovig, mit allerlei schrägen Vögeln, die einem immer wieder begegneten. Man trank Bier oder Edelzwicker und aß Crocque oder Salade Nicoise. Heute nimmt man ein Business-Lunch und trinkt Stilles Wasser in übersichtlich ausgeleuchteten Räumen.

Von den Antiquitätenläden, deren bunte Gemischtwaren früher den Gehweg säumten, finden sich heute noch einige edle Nachkommen mit feinen Möbeln, Dekorationsstücken und ausgesuchten Stoffen. “Das 7. Zimmer” zeugt vom besonderen Charakter alter Sachen. Gabriela ist unverkennbar Stylistin. Davon zeugt die Präsentation ihrer käuflichen Exponate, die sie in einer Mischung aus wohlkonservierter Morbidität und versehen mit Accessoires linnener Steifigkeit und duftiger Jahreszeitlichkeit in Szene setzt.

Typisch für die Hegestraße heute sind die Boutiquen für Kindersachen, Kleider, Schuhe, Handtaschen und Schmuck, die nicht, wie in den großen Straßen, Ableger der bombastischen Flaggschiffe aus der Innenstadt sind, sondern kleine, feine Läden mit individuellem, edlem, wenngleich nicht ganz billigem Sortiment.

Einen ganz unverkennbaren Stil vertritt seit jeher die “Silbermine”. [1] Hier wird Schmuck gemacht, der edel aussieht, ohne protzig zu wirken. Birgitta und Michael Rheinländer sind handwerklich versiert und zurückhaltend in ihrer Beratung, während man sich umschaut zwischen Vitrinen und Siamkatzen, deren Augen die Farbe der “Silbermine” widerspiegeln, das Blau des Ladens, – ja, sogar das des blaufenstrigen Hauses, das sie beherbergt.

Daneben findet sich auch ein gutsortierter, mit modischem Gespür geführter Second-hand-Laden, dessen einfühlsame Beratung die Kundin mit dem Gefühl versieht, ein besonderes Einzelstück zu erwerben.

Und das ist beileibe nicht alles.

Für die Ausgehungerten gibt es einen abwechslungsreichen Mittagstisch, saisongerecht und frisch gekocht gleich gegenüber bei “Umland”. Mittags hört man schon von weitem das friedliche Geplauder und Besteckgeklapper von den Stehtischen unter der Blauen Markise. [2]

Für die weniger Eiligen gibt es einen Supermarkt, darinnen eine Bäckerei mit zünftigem Stehcafé. Für die geistig Hungrigen die Buchhandlung “Heymann”. Und für die durstigen Autos eine der wenigen innerstädtischen Tankstellen mit Service und Minimarket.

Eine bauliche Attraktion hat die Hegestraße auch zu bieten: Es ist ein Neubau, der sich in seinem Äußeren ganz den Fassaden der Gründerzeithäuser angepasst hat. Dies ist sehr wohltuend nach all den Pseudo-Schiffsarchitekturern der späten neunziger Jahre.

Beide Enden der Hegestraße bilden Kinderspielplätze, denn gerade die breiten Trottoirs des heiteren, geschäftigen Teils sind das ideale Pflaster für Mütter, die kleine Kinder schieben.

Webhinweise:

[1] Silbermine Hamburg – Schmuck aus der Silbermine

[2] Umland – delikat essen und Party-Service
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https://web.archive.org/web/20140114041408/
http://www.blog.institut1.de/2008/hegestrase-hamburg-mit-ungebrochenem-charme/

Im Dickicht zusammengesetzter Verben

Gunhild Simon

Gunhild Simon

Viele Verben kommen nicht ohne Vorsilbe aus. Sei es, dass sie dadurch präziser, konkreter, spezieller oder gar metaphorisch werden. Unterscheiden kann man zwischen den echten Präfixen, also solchen, die allein kein eigentliches Wort ergeben (be-, er-, ge-, ver-, zer-, ent-), und jenen, die für sich genommen bereits eine selbständige Präposition sind (ab-, ein-, aus-, an-, auf-, zwischen-, mit-, vor-, nach-, entgegen-, voran-, voraus…).

Neue Qualität zeigt sich erst, wenn sie ihre infinite Form verlassen. Da nämlich scheiden sie sich buchstäblich. Die unechten Präfixe gilt es abzutrennen.

abtrennen – trennt ab

einkaufen – kauft ein

ausatmen- atmet aus

fortfahren – fährt fort

voranstellen – stellt voran

einklammern- klammert ein

Das hat syntaktische Folgen. Denn das Prädikat klammert mit seinen beiden Teilen sämtliche weiteren Aussagen ein:

Sie kommt am Hauptbahnhof um Mitternacht mit dem Schnellzug an.

Es gibt solche, die kommen scheinbar gleich daher. Erst durch ihre Betonung erhalten sie
unterschiedliche Bedeutung – und das drückt sich dann syntaktisch aus! Diese janusköpfigen können
mit über-, unter-,
durch-
, um-, wieder-, hinter- beginnen:

Es ist ein Unterschied, ob ich mit Problemen umgehen muss,
oder ob ich sie umgehen muss! Ob ich ein Stoppschild
überfahre oder überfahre.

Grundsätzlich gilt die Trennungsregel für zusammengesetzte Verben, sobald die jeweils vorangestellte
Partikel betont ist:

umgehen- umgehen

umstellen- umstellen

übergehen– übergehen

untergehen- unterlaufen

durchfahren-durchfahren

durchgehen- durchlaufen

untergraben- untergraben

überziehen- überziehen

übersetzen- übersetzen

Natürlich gibt es wieder die Ausnahme, die alle Regeln zunichte zu machen scheint:

bevorstehen – steht bevor – bevorgestanden

bevormunden – bevormundet – bevormundet

Lassen Sie sich nicht foppen!

Im ersten Fall ist die Präposition bevor im Einsatz. Im zweiten hat das Verb, das sich
von Vormund ableitet, ein echtes Präfix, nämlich be- erhalten. Mit diesem
Trick lassen sich nämlich ganz einfach transitive Verben konstruieren.
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Deklination und Konjugation als grammatische Grundbegriffe

Was heißt das eigentlich: deklinieren und konjugieren? Wir nennen es leichthin übersetzt: beugen. Vielleicht haben auch Sie sich gefragt, was das zu bedeuten hat – gebeugt unter dem Joch? Man widmet sich dem Vorgang, ohne sich Rechenschaft abzugeben.

1. Deklination:
Ein Substantiv beugen, deklinieren, meint, es durch seine Fälle / Kasus führen. Der jeweilige Fall ist nicht zufällig, sondern unterliegt einem Regenten! Dieser kann ein Verb (Tuwort)
sein oder eine Präposition (Verhältniswort: eine Voransetzung, die eine Relation ausdrückt). Manchmal nehmen wir es überdeutlich wahr: Da verlangt ein Verb – oder eine Präposition – offensichtlich zwingend einen bestimmten Fall, sonst klingt alles falsch! Das nennt man regieren.

So regiert etwa helfen den Dativ (dare = geben), unterstützen dagegen den Akkusativ (accusare = anklagen), sich annehmen den Genitiv (genus = Herkunft), während das Subjekt, also die handelnde Person, im Nominativ (nomen = Name) steht. Nur das Verb sein als Vollverb kann den Nominativ regieren: so entsteht das Prädikatsnomen: z.B. er ist Lehrer. (jemandem helfen – jemanden unterstützen – sich jemandes annehmen – jemandem etwas geben – jemanden anklagen – jemandes bedürfen – jemand sein)

Und wie steht es um die Präpositionen? Z.B. verlangt entgegen den Dativ, für den Akkusativ, wegen den
Genitiv (entgegen seinen Leistungen, für seine Leistungen, wegen seiner Leistungen).

2. Konjugation
Ein Verb beugen, konjugieren, heißt durch die Personen – sodann durch Tempora / Zeiten, Modi / Aussagearten (Indikativ / Konjunktiv) und das Genus Verbi (Aktiv / Passiv)
führen. Mit der Personalendung erhält
das Verb seine finite (kontext-endgültige) Form.

Konjugiert geht ein Verb Verbindungen in verschiedenen syntaktischen Zusammenhängen ein:
personale, zeitliche, modale und Satzgefüge bewirkende.
Ein konjugiertes Verb kann für
sich stehen, mit einem Subjekt einen vollständigen
Satz ergeben: das ist ein Vollverb, z.B. arbeiten,
spielen….. Er arbeitet. Das Kind spielt.

Andere verlangen, um einen Sinn
herzustellen, unbedingt ein Objekt (- man versucht
es gelegentlich mit dem anschaulichen Begriff Mitspieler zu umschreiben
-):
Jemandem
vertrauen, jemandem sich / etwas
anvertrauen, auf jemanden vertrauen. Ich vertraue dir. Ich vertraue mich / etwas  dir

an
. Ich vertraue auf dich.

Und nun noch ein Bonbon für Sprachfüchse: trauen
Sich trauen oder jemandem trauen?
Sich trauen (das ist reflexiv also notwendigerweise mit Akkusativ). Es bedeutet den Mut haben,
z.B. etwas zu tun:
Ich traue mich … zu widersprechen, … in die Achterbahn, …
Sich / jemandem trauen (mit Dativ), ich traue mir oder jemandem, d. h.
Zutrauen zu sich / zu jemandem zu haben.

Trauen im Sinne von verheiraten – das
kann nur eine dafür bestimmte Person, etwa der Pastor oder der Standesbeamte.
Die Brautleute hingegen müssen schon das Passiv hinnehmen, wenn sie
sich trauen lassengetraut werden!


Vertrauen, Zutrauen und Zuversicht ist aber allemal im Spiel!


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