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Ein Buntspecht mit neuen Lebensaufgaben

Buntspecht

Buntspecht
Sławomir Staszczuk (info [AT] photoss.net)
Lizenz: Creative Commons

Die Zeit der Werbung ist vorbei. Die Jungen sind flügge. Die meisten Singvögel haben sich auf den weiten Weg ins Winterquartier gemacht. Die anderen richten sich auf ungemütlichere Zeiten ein – immerhin solche, die nur im Zeichen eigener Versorgung stehen. Und dieses Daheimbleiben scheint immer attraktiver zu werden für Amsel, Buchfink und Rotkehlchen, weil die Winter milder werden und die Futterversorgung verlässlicher ist.

Zu den Stimmen der Waldtauben, Krähen und Elstern hat sich ein neues Vogelgeräusch hinzugesellt, das rhythmische Hämmern und Klopfen eines Buntspechtes. Er hat die Fassade des Nachbarhauses zu seiner „Werkstatt“ erkoren. Eine vorspringende Ecke gibt seinen kräftigen, den Körper abstützenden Schwanzfedern und den mit vier starken Krallen bewehrten Füßen Halt. Die Rückfront des Hauses ist von außen mit einer wärmedämmenden Styroporschicht umgeben. Dieses Isoliermaterial ist griffig für Vogelkrallen und klingt beim Picken wegen seiner Lufteinschlüsse nicht wie eine verputzte Steinfassade, sondern ähnlich wie morsches Holz. Die wärmespeichernde Wand ist zugleich Ruhefläche für fliegende Insekten. Den Specht lockt reiche Beute.

Der Buntspecht ist ein Allesfresser. Seine Lieblingsnahrung sind Insekten, deren Eier und Larven. Aber winters ist er wegen seines bunten Federkleides auch gerngesehener Gast an Futterhäuschen und Meisenknödeln. Weniger beliebt macht er sich als raffinierter Nesträuber von Meisennestern. Dort nämlich tritt er mitunter als ‚Wolf im Schafspelz‘ auf, indem er, wenn die Nestlnge allein zu Haus sind, versteckt lauert und mit Futter im Schnabel lockt. Ein unvorsichtiges Meisenküken, das sich am Höhleneingang zeigt, ist verloren.

Der lateinische Name für Spechte lautet picinae, der Specht heißt picus, Picker. Diesen Namen verdankt er einer Sage, wonach die Zauberin Kirke, einen Mann namens Picus, der ihre Liebe verschmäht hatte, in einen Specht verwandelt hatte. Der lateinische zoologische Name des Spechts ist picus, Schnabel, weil er in Form und Funktion dieser Aufgabe des fortgesetzten Hämmerns und Pickens angepasst ist. Auf Spanisch bedeutet el pico sowohl Schnabel als auch Bergspitze. Auch in der Spielkartenbezeichnung Pik steckt die Bedeutung von spitz. Ebenso in Pickelhaube und in Pickel, der Spitzhacke.

Schaut man einem Specht so aus nächster Nähe beim Meißeln zu, so kann man sich der Frage nicht erwehren, warum der Vogel, der mit solcher Wucht seinen Kopf für sein kraftraubendes Werk einsetzt, keine Kopfschmerzen bekommt. Das Geheimnis der Dämpfung des heftigen und schnellen Aufschlags des Schnabels liegt in seiner darauf abgestimmten Konstruktion. Einerseits umgibt das Gehirn sehr wenig Hirnwasser, sodass es beim Hämmern nicht an die Schädeldecke geschleudert wird. Andererseits liegt zwischen Schnabel und Kopf ein Zwischenraum, der den Druck des Schnabels auf den Kopf absorbiert. Die Augen sind geschützt durch einen nur Millisekunden währenden Schluss der Augenlider im Moment des Lösens von Holzspänen.

Spechtschmieden zeigen das Bauen einer Bruthöhle an oder das Aufspüren von Insekten und Larven unter losen Rinden und in morschem Holz. Zum Glück für seine wohnungsuchenden Nachbarn ist es die Lebensaufgabe des Spechts, unablässig von neuem zu hämmern und zu zimmern.

Mehrmals am Tage kehrt der Bauherr, der früher noch „Zimmermann des Waldes“ hieß, aber inzwischen zu einem veritablen Kulturfolger avanciert ist, zu seiner zivilisatorischen „Baustelle“ zurück und hackt unablässig auf sein favorisiertes Styroporloch ein. Nur manchmal hält er inne und schaut mit beweglichem Kopf wie sein spechtlicher Verwandter, der Wendehals, weit in die Runde, als suchte er Zustimmung und Beifall.

Zustimmung und Beifall – Meisen und Käuze suchen einen Schutz für ihre Nester und Gelege. Natürlicher Unterschlupf, wie Asthöhlen und -gabeln in verwittertem Holz sind schwer zu finden in den schnellwüchsigen Bäumen der Hintergärten, wo alte Obstbäume dem Wetter zum Opfer fielen und selbstausgesäte Alleebäume an ihre Stelle traten. Da sind die Höhlenbauarbeiten des Buntspechts hochwillkommen.

Nur Hausbesitzer, die in bester Absicht ihren Altbau nachträglich isolieren wollten, sind machtlos gegen diese schon in die Fachsprache eingegangenen „Spechtschäden“. Mithilfe eines aufwändigen Gerüsts gelangte einst ein Maler bis an die am höchsten gelegenen Scharten im Gemäuer. Bald waren alle Spuren beseitigt, die Wand übertüncht. Aber schon im folgenden Frühjahr nahm der Zimmermann der Hintergärten unverdrossen seine Arbeit wieder auf.

Die Hausecke ist wieder zerklüftet. Die Vögel aber, deren Bedürfnisse nach Brutplätzen der Buntspecht erfüllt, werden im Verborgenen der beengten ökologischen Nische mit Rückzugsorten versorgt. So hat – wenigstens im Hinterhof – alles seine gute Ordnung.