Vater, Mutter und Kind sind Bezeichnungen, die Einordnung und Rang in der Familie kennzeichnen. Das Prinzip familiärer Organisation beruht auf emotionaler Zugewandtheit und verlässlicher Präsenz, auf Arbeitsteilung und Verantwortung füreinander. Die gesellschaftliche Umgebung, in der ein Kind aufwächst und sich entfaltet, umgeben von einer Großfamilie, bestehend aus Großeltern, Onkeln und Tanten, Cousins und Cousinen, hat sich grundlegend verändert; die gesellschaftliche Rolle der Familie ist neu definiert. Die Kleinfamilie hat sich den Erfordernissen der modernen Gesellschaft angepasst.
Inzwischen liegen Erziehung und Bildung zunehmend in außerfamiliären Händen. Doch das wird nicht nur als Fortschritt empfunden. Die Befürchtung vieler Eltern, das Heranwachsen ihres Kindes kaum noch verfolgen und gestalten zu können, sich dem Kind zu entfremden, das kann sich unüberschaubar verstärken, wenn kulturelle Hürden gepaart mit Sprachbarrieren die Transparenz pädagogischer Intentionen behindern.
Dem zunehmend solitär lebenden Menschen der postmodernen Industriegesellschaft sind viele soziale Fähigkeiten abhanden gekommen. Dieser Prozess der Vereinzelung, mit dem ein verantwortungsbereites Sozialgefüge kaum mehr verbunden ist, traf besonders außereuropäische Arbeitsmigranten in ihren Grundfesten, weil sie, abrupt aus bäuerlich organisierten Familienverbänden gerissen, auf eine fremde, ganz anders strukturierte Gesellschaft trafen. Dieser Verlust eines familiären Zusammenhalts traf sie deshalb so spürbar, weil die religiös begründeten, patriarchalischen Gesetze in Frage gestellt wurden, die ihre Werte und ihren Glauben begründeten. Das Mutterland war fern und der Fernsprecher teuer.
Die Verwerfungen, die der Anpassungsdruck und die Abgeschiedenheit von der Heimat mit sich brachten, bewirkten einen Realitätsverlust, der sie daran hinderte, die dortigen wie hiesigen gesellschaftlichen Entwicklungen nachzuvollziehen. Diese gebrochene Sicht betraf auch die nachgeholte Familie. Sie ließ elterliches Traditionsbewusstsein und kindliche Neugier aufeinanderprallen, ein Konflikt, der unbeherrschbar wurde, wenn sich Sprachebene und Wortschatz der Generationen einander entfremdeten. Dieser Riss ging bis in die Community selbst, die sich als Bewahrer heimatlicher Werte verstand. Der wechselvolle Einfluss auf die Väter und die heranwachsenden Söhne vollzog sich auch in Freizeiteinrichtungen wie Kulturvereinen, die in vertrauter Atmosphäre ihren Besuchern Zerstreuung, Unterhaltung und Meinungsaustausch bei Treffen und Versammlungen in der Muttersprache boten. Kulturvereine betrachten sich als Vermittler zwischen kulturellen Gegensätzen zu dem Gastland Deutschland. Sie wollen auch für Kinder, Jugendliche und Frauen unterhaltsame, sowohl erneuernde als auch traditionelle Angebote wie Volkstanz und Sprachkurse anbieten.
Namen sind grundlegend für sprachliche Kommunikation in menschlichen Beziehungen. Sie sind das Abbild einer Gruppenstruktur wie der der Familie. Ein Grundbedürfnis nach sprachlicher Kommunikation ist die Anrede, also der Name der Bezugspersonen. Im Namen bildet sich der soziale Bezug ab, die Verwandtschaftsbeziehung, die den sozialen Rang widerspiegelt. So ist in orientalisch geprägten Kulturen das Ansehen und die Autorität männlicher Familienmitglieder umso höher, je älter sie sind. Das älteste unter den Geschwistern wird nicht mit Namen, sondern wie Vater, Onkel, Großvater, die eine natürliche Autorität haben, mit seinem familiären Titel genannt. Diese Struktur ist noch lebendig in der traditionellen türkischen Familie, wo die ältesten Geschwister „Großer Bruder, abi“ oder „Große Schwester, abla“ genannt werden. Diese ehrerbietige Anrede kennzeichnet den Status in der Familienhierarchie.
Noch in den 70er Jahren kam die Mutter eines türkischen Kindes zu einer schulischen Veranstaltung nicht ohne die Begleitung eines möglichst höherrangigen männlichen Mitglieds der Familie. Dieser Vertreter war der Ansprechpartner, der der Mutter alle sprachlichen Inhalte vermittelte, und er war gleichzeitig ihre Stimme. Eine Frau, der man männliche Begleitung zu versagen schien, schadete dem Ruf der Familie. Umgekehrt fühlten sich Frauen in männlicher Begleitung sicherer, bewacht und beschützt, wenn sie in offiziellen Angelegenheiten außerhalb des Hauses zu tun hatten. Der Begleitschutz war gleichzeitig eine Form von Wertschätzung nach den Maßstäben der frühen türkischen Subgesellschaft in Deutschland.
Inzwischen haben sich die gesellschaftlichen Verhältnisse geändert, in der Türkei selbst und in der türkischen Community, die sich teilweise schneller – freudiger und erleichtert – teilweise aber auch langsamer und schwerfälliger anpasst. Rückkehrer haben es so – oder so – schwer, weil Zweisprachigkeit nicht unbedingt auf der sprachlichen Höhe der Zeit zu sein bedeutet und weil man in beiden Heimatländern keinen eindeutigen, soliden Status hat.
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