Archiv nach Monaten: April 2020

Das Corona-Virus – Parasitismus als Modell für virale Existenz

Fichtenspargel (Monotropa hypopitys)

Fichtenspargel (Monotropa hypopitys)
Foto: Aorg1961
Lizenz: GNU Free Documentation License

Die lebendige Natur existiert – lebt und stirbt – innerhalb einer Nahrungskette. Leben und Sterben ist ein gemeinsames System, in dem sich notwendig lebendige Existenz vollzieht. Die Ernährung von Lebewesen kann nur aus lebendigem Material (1) bestehen. Essbar im Sinne von nahrhaft können nur Stoffe sein, die aus der belebten Natur stammen. Alle Lebewesen ernähren sich also in irgendeiner Form von anderen.

Parasit ist ein Wort, das, aus dem Altgriechischen stammend, auf παρά, pará, bei, neben, mit und σῖτος sītos, (Gereide-) Kost zurückgeht, woraus sich „Nebenkoster“ für παράσιτος, parásitos (2), ergibt. Klassische tierische Parasiten bewohnen ihre Wirte in deren Körperinneren und ernähren sich auf diese Weise von fremden Ressourcen, den Körpersäften.

Parasiten im engeren Sinne benötigen, um sich zu vermehren, neben dem Wirt, von dem sie leben, einen Zwischenwirt, in dem sich ihre befruchteten Eier bis zum Larvenstadium entwickeln, um dann ausgeschieden zu werden. Ausnahme des Parasitismus ist die Entwicklung des Parasiten bis zu seiner endgültigen Reifung, wenn er seinen Wirt tötet, indem er ihn als bloße Hülle zurücklässt, um ein neues geschlechtliches Leben nach einer Metamorphose zu beginnen. Ein Beispiel dafür sind Schlupfwespen. Parasitäre Würmer bleiben zeitlebens im Körperinneren eines Wirts, den sie nur wechseln, um einen neuen Wirt für ihre geschlechtliche Vermehrung aufzusuchen.

Blutegel als Parasit einer Nacktschnecke

Blutegel als Parasit einer Nacktschnecke
Foto: Manuel Krueger-Krusche
Lizenz: Creative Commons

Zwischenwirt ist ein Begriff aus der Parasitologie. Er hat also ursächlich mit Parasitismus zu tun. Parasiten sind Lebewesen, die man mehr zu fürchten geneigt ist, als gefährliche Tiere mit offenem Visier. Parasiten verrichten ihr schädliches Tun im Verborgenen. Sie ernähren sich direkt von den Lebenssäften anderer Lebewesen. Das macht sie uns fremder, ekelerregender und unheimlicher, als die bedrohliche Sichtbarkeit einer Bestie es könnte.

Jetzt taucht der Begriff des Zwischenwirts, der genuin der Parasitologie eigen ist, in der Virologie erneut auf. Er ist eine Metapher, eine bildliche Übertragung, die dazu dient, den Angriffsweg eines Virus zu beschreiben.

Ein Virus, das auf ein bestimmtes Tier spezialisiert ist, kann nicht direkt auf den Menschen überspringen, solange es keine Möglichkeit hat, sich Eingangspforten in die menschliche Zelle zu erschließen, vergleichbar einer Schloss-Schlüssel-Funktion. Dafür bedarf es einer Mutation, einer dauerhaften, genetischen Veränderung.

Ebola Virus

Ebola Virus
Foto: BernbaumJG
Lizenz: Creative Commons

Viren sind extrem wandlungsfähig, und damit aggressiv, zugunsten ihrer Verbreitung. Diese Wandlungsfähigkeit, die in eine Mutation mündet, kann das Virus nur in den Zellen eines anderen geeigneten Lebewesens, eines Zwischenwirts, vollziehen. Erst dann verlässt es diesen Zwischenwirt, um noch erfolgreicher in dem neuen Wirt Mensch zu wirken, indem es diesen als besonders brauchbaren Vermehrer benutzt. Ziel dieser Funktion ist seine maximale Ausbreitung, über Kontinente hinweg, was schließlich zu einer Pandemie führen kann. Betrachtet man das Virus als Parasiten, so dient das befallene Lebewesen – der Mensch – als Nährboden seiner Vervielfältigung und Ausbreitung. Die virusgesteuerte Zelle übernimmt seine Reproduktion bis sie schließlich an Überbeanspruchung und Fremdbestimmtheit zusammenbricht und zugrunde geht.

(1) Es gibt allerdings Bakterien, die dazu in der Lage sind, Steinen Mineralien zu entziehen, um sich davon zu ernähren. Inwieweit diese Fähigkeit Ernährung im Sinne eines Systems von Energiegewinnung und -einsatz und Verstoffwechselung ist, ist zu diskutieren. Es zeigt sich darin aber die unabweisliche Notwendigkeit für andere Lebensformen, dass Mikroorganismen, lebenswichtige anorganische Stoffe erschließen.

(2) Diese Bezeichnung hat ursprünglich einen anderen Hintergrund. Ein Parasitos war ein Vorkoster, dessen Aufgabe darin bestand zu prüfen, ob das für den Herrscher bestimmte Mahl bekömmlich und ungiftig sei. Auf diese Weise ernährte sich der Parasitos zwar in gewisser Weise riskant, aber bestens und gratis. Allerdings minimierte sich das Risiko einer Vergiftung bereits durch seine bloße Existenz.

Triage – Wiederbelebung eines Modells aus der Katastrophenmedizin der 80er Jahre

Triage-Station

Triage-Station
Quelle: Otis Historical Archives Nat’l Museum of Health & Medicine
Creative Commons

Triage war ein fast vergessener Begriff aus der Katastrophenmedizin, aus den Überlegungen, die im im 1. Weltkreig bereits behandlungsleitend für die Sanitäts – und Lazarettmedizin waren. Jetzt, angesichts der Corona-Krise, wird er wiederbelebt und zu einer existentiellen Frage.

In dem französischen Fremdwort Triage erkennt man unschwer die Zahl drei, tri- wie in Triangel, Trisomie, Trio. Dann folgt eine substantivische Endung -age, wie in Garage, Montage, Vernissage, d.h. etwa -ung – „Dreiung“ oder Dreiteilung, Priorisierung. Darin zeigt sich ein Gedanke, wie man ihn praktischerweise beim Aussortieren des Kleiderschranks entwickelt. Man stellt drei Kategorien zusammen, vielleicht drei Kartons auf, in die man die alten Sachen verteilt: Ja. Vielleicht. Nein.

Eine vergleichbare Einteilung stellte die Katastophenmedizin auf:
Ja – heilbar, nutzbar und jung.
Vielleicht – möglicherweise heilbar und wieder einsetzbar.
Nein – geringe Überlebenschance, zu alt, gesellschaftlich und medizinisch zu kostspielig.

Diese Priorisierung wird in Zeiten der Corona-Krise wieder aktuell, weil die Krankenhausversorgung aus materiellem und personellem Mangel Züge von Notfallmedizin bekommt.

Menschen, die eingeliefert werden mit Symptomen von Atemnot, müssen nach Gesichtspunkten dieses Verfahrens beurteilt werden. Menschen, deren Prognose ungünstg ist, werden eher mit Schmerzmittlen statt intensivmedizinisch versorgt. Demokratisch etablierte Grundsätze der Gleichbehandung, die dadurch nichtig werden, werfen moralische, medizinethische Fragen auf.

Im Katastrophenfall einer Pandemie folgen Leben und Sterben hinter Plastik, auf Fluren, ohne menschlichen – vielleicht verwandtstchaftlichen – Beistand. Das ruft Beunruhigung hervor.

Es werden auch Erinnerungen an Selektion geweckt, wie sie in Konzentrationslagern üblich war, Befürchtungen von Aussonderungen nach Kosten-Nutzen-Aspekten.

Die Bedrohung durch einen Atomkrieg, wie sie noch in den Ausgängen des Kalten Krieges in den siebziger Jahren spürbar waren, wurde in den frühen 80er Jahren abgelöst durch die Angst vor dem Versagen eines Atomkraftwerks, durch die Vorstellung einer Katastrophe, die sich an ihren sichtbaren und unabsehbaren Folgen wie in Hiroshima und Nagasaki orientierte. Dort hatten am Ende des 2. Weltkriegs als Antwort auf den Angriff Japans auf den US-Flottenstützpunkt Pearl Harbour im Südpazifik zwei Atombomben das Leben fast vollständig ausgelöscht und Überlebende zum Siechtum bis in kommende Generationen verurteilt. Mit dem Einsatz von Atomwaffen hatte Krieg eine neue Dimension. Verletzung war nunmehr kein Einzelschicksal, sondern ein generatives. Kriegswunden mussten nicht mehr konventionell versorgt – verbunden und operiert – werden, sondern eine genetische Beschädigung würde unabsehbare Konsequenzen zeitigen.

Was sollte geschehen mit den Opfern, eine Frage, die Mediziner vor ungeahnte Probleme stellen würde?

Deshalb ging es zunächst darum, die Frage der Vorrangigkeit zu beantworten. Daraus entstand der katastrophenmedizinische Begriff der Triage.

Diese Vorrangigkeit, also die Frage der Priorität der Opfer und ihrer Behandlung, glaubt man nun abermals durch das priorisierende Verfahren einer Triage feststellen zu können.

Triage vor dem Pentagon am 11. September 2001

Triage vor dem Pentagon am 11. September 2001 – Foto: JO1 MARK D. FARAM, USN – public domain

Jetzt ist plötzlich eine medizinische Katastrophe in unmittelbarer, bisher kaum vorstellbarer und fühlbarer Nähe. Im hochentwickelten, reichen Norden Italiens, der Lombardei, fehlen Beatmungsgeräte. Ärzte und Pflegepersonal sind menschlich, medizinisch und berufsethisch überfordert. Experten, aus China zu Hilfe gerufen, sind ratlos ob der unzureichenden Vorbereitung und des unprofessionellen Umgangs mit einer Epidemie, wie sie die heutige wirtschaftliche Verflechtung schon längst nahelegte.
Dennoch hielt sich die westlche Welt für überlegen, für unverwundbar.

Jetzt fühlen sich die Alten überflüssig und ungewollt. Soziale Nähe gibt es nur medial, Medien aber sind der älteren Generation nicht so vertraut und leicht zugänglich. Ärmere Menschen sind materiell und technisch weniger gut versorgt. Abseits großer Städte ist der Empfang weniger breit und gut. Kinder werden zum Abstandhalten abgerichtet. Fremdes wird gemieden. Suizide nehmen zu. Haustiere werden ausgesetzt. Reiche schaffen sich vorsorglich ein eigenes Beatmungsgerät an. Dann könnte ein Luxusgut ihr Leben retten.

Dies ist nicht nur eine Frage der Medizinethik, sondern auch der Rechtsethik, eine moralphilosophische Überlegung mit hoch praktischem Geschehensvorstellungen. Es sind Fragen, die sich heute neu stellen, jenseits von Krieg und erlebtem und wieder denkbarem Faschismus.

Das Grundgesetz stellt fest: Alle Menschenleben genießen vor dem Gesetz gleichen Schutz. Es wird schwierig im Konkreten: Wessen Leben geht im Fall der Konkurrenz vor. Ich führe das Beispiel an, wenn zwei Leben gegeneinander abgewogen werden müssen. Man denke an den Konflikt, wenn das Leben der Mutter – erst recht, wenn es noch weitere Knder gibt – und das des ungeborenen Kindes kollidieren. Nach der Rechtsprechung entscheidet man für die Mutter, die Person, die im Leben steht, Veranwtortung trägt für eine Familie, das Leben eines Kindes begleitet und besorgt. Das Ungeborene zwar hat das ganze Leben vor sich, aber es ist noch nicht eingebettet in den sozialen Kontext. Es ist wie ein unbeschriebenes Blatt, ein offener Ausgang. Ohne Schutz und Versorgung durch die Mutter würde man es vielfachen Gefährdungen aussetzen.

Ist das gerecht? Sollte man nicht das perspektivische Leben des ungeborenen Kindes gleich bewerten wie das – vielleicht nur vorgestellte – Leid der Mutter?

Wie gewichtet man das? Kann man einem menschlichen Leben die Priorität, den Vorzug vor dem anderen geben? Kann der Mensch über Leben oder Tod nach Gesichtspunkten von Kosten, Nutzen und zugeteilten Chancen entscheiden?