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Von Hamburg nach Sylt – will ich zurück nach Westerland?

Westerland Musikmuschel

Westerland Musikmuschel – Foto: Magnus Manske Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported

Ich war noch nie auf Sylt. Sylt war mir immer ein Mythos. Irgendwie Luxus und Eleganz. Dahinter musste ja eine besondere landschaftliche Schönheit verborgen sein, dachte ich.

Bis zum letzten Sonntag.

Früh um sechs in der S-Bahn. Die Betriebsamkeit von Werktagen ist fern. Zwei Mädchen im Konfirmandenalter sind auf dem Heimweg und begutachten ihre übernächtigten Züge in den verkratzten Scheiben. Sie sind in dem Alter, wo man sich in gleicher Aufmachung sicherer fühlt: Lange Haare umrahmen Gesichter mit jugendlichem Schmelz, modische Tops bis über die Hüften, Ballerinas an den Füßen, die Rehbeine in schwarzen Leggings – je dezent zerrissen, ob Absicht oder Trend, das entzieht sich inzwischen meiner Kenntnis.

Es ist einfach, nach Sylt zu gelangen von Hamburg aus. In Altona besteigt man die Nord-Ostseebahn, eine Privatbahn mit schmucken Waggons, verbindlichem Personal, präziser Information und artigen, airlineentlehnten Sätzen.

Die Wettervorhersage verhieß Gutes für die Insel. Noch vor Sonnenaufgang schritt ich im Morgennebel einen langen, verlassenen Bahnsteig ab bis zur einsamen Spitze des wartenden Zuges. Altona ist ein Kopfbahnhof. Da fahren alle Züge aus einer Richtung ein und entgegengesetzt wieder aus. Mit der S-Bahn unterwegs über Altona und Blankenese nach Wedel wechselt man auf diese Weise zweimal die Blickrichtung. Denn der gleiche Ablauf wiederholt sich in Blankenese.

Eine ausgeschlafene Rentnergruppe mit Rucksäcken findet sich ein, auch das blau-gelb uniformierte Zugpersonal, schließlich noch eine Handvoll Reisender, die sich in der Wagenvielzahl verliert.

Mit meinen Reisegefährten – einem Mann und einer Frau – besteige ich den Zug, und ab geht die Fahrt nach Norden durch das nebelverhangene, öde Flachland um Elmshorn und Itzehoe, schließlich über die Nord-Ostsee-Kanalbrücke als einzige Erhebung, durch Dithmarschen – Heide und Husum. Unser gutgelaunter Reiseführer weist auf Storms “graue Stadt am Meer” hin. Er kennt sich aus. Er fühlt sich sogar für das Wetter zuständig, und zuversichtlich macht er selbst für die Pfützen, die hier und da auf dem feuchtglänzenden Asphalt einen tiefen Himmel spiegeln, den Herbstnebel verantwortlich.

In Westerland angekommen, auf pittoreske Reetdachhäuser hoffend, werde ich zuerst mit giftgrünen, aus der Vertikale geratenen Riesenskulpturen konfrontiert. Meine Begleiter witzeln über die Gewalt des Nordseewindes. Eine Fußgängermeile führt geradewegs zum Meer. Überwiegend ist sie gesäumt von Stehcafés – um einen besseren Durchlauf zu gewährleisten, wie mir schwant. Noch richtet das Personal das erhöhte Gestühl, es wird gefegt und gewischt, Decken bereit gelegt.

Die Straße mündet in ein verheißungsvolles Tor – wie bei Goldmarie und Pechmarie. Da ist die Kurtaxe fällig. Dahinter liegen Strand und Meer bis zum Horizont. Auch die Promenade und die Tribüne für das Kurkonzert in einer unsäglichen Muschel. Ein Ensemble osteuropäischer, sonnenbebrillter Künstler im schwarz-roten Outfit spielt ein Potpourri von Alexandra bis Mozart. Ich stelle mir vor, dass es Symphoniker sind, die sich über die Sommermonate hier verdingt haben und eisern ihr Programm mit gefälligen Gesangseinlagen absolvieren.

Gesichtsgebräunte Rentner in heller Freizeitkleidung sind um diese Zeit in der Überzahl. Man trägt Perücke oder Prinz-Heinrich-Mütze. Beides windfest. Man übt ein paar Tanzschritte oder wiegt sich im Takt. Frisierte Hunde werden vorübergeführt.

Am nördlichen Rand des verhangenen Himmels öffnet sich zögernd ein blauer Streifen.

Und schon vertreibt die Sonne Dunst und Wolken und verklärt den Oktoberhimmel. Ein paar Sturmvögel untersuchen den strandgutbefreiten Strand nach Brauchbarem. In der Brandung tummeln sich, glänzenden Haifischen gleich, dunkle Gestalten – Wellenreiter in Neoprenanzügen. Ein paar Drachen steigen auf. In großen Bögen benetzen die gebrochenen Wellen den Sand. Die rhythmisch-züngelnde Bewegung des auflaufenden und ablaufenden Wassers um mich herum ist schwindelerregend, meine Füße drohen im nassen Untergrund ihren Halt zu verlieren.

Nun, nachdem klar ist, dass eine Strandwanderung in dem künstlich aufgeschütteten Sand über meine Kräfte gehen würde, strecke ich mich ergeben in meinem Strandkorb aus – windgeschützt, die wie aus dem Nichts sich bald aufbauenden Wellenkämme vor Augen und in den Ohren das Geräusch der bald umkippenden Brandung, bis mir die Lider schwer werden.

Als die Sonne sinkt, ist noch ein letzter Programmpunkt zu erfüllen: der Besuch eines einschlägigen Fischimbisses. Der Ablauf beeindruckt mich. Angesichts einer verglasten Theke wählt man den Fisch, der einem zusagt, aus. Gelassene junge Männer bereiten ihn auf einer riesigen heißen Fläche vor aller Augen zu. Dazwischen werden die Bratkartoffeln und Zwiebeln hin und her geschoben, die Teller angerichtet. Trotz der Enge, in der die Köche hantieren, kommt sich niemand in die Quere, so leicht und sicher ist jede Geste, jeder Wink, aufeinander abgestimmt. Ist das Gericht fertig, wird die Nummer ausgerufen, die der Kunde bei der Bestellung erhalten hat. Ich hatte mich dem Luxus verschrieben und überbackene Jakobsmuscheln genommen.
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