Tägliche Archive: 6. April 2020

Triage – Wiederbelebung eines Modells aus der Katastrophenmedizin der 80er Jahre

Triage-Station

Triage-Station
Quelle: Otis Historical Archives Nat’l Museum of Health & Medicine
Creative Commons

Triage war ein fast vergessener Begriff aus der Katastrophenmedizin, aus den Überlegungen, die im im 1. Weltkreig bereits behandlungsleitend für die Sanitäts – und Lazarettmedizin waren. Jetzt, angesichts der Corona-Krise, wird er wiederbelebt und zu einer existentiellen Frage.

In dem französischen Fremdwort Triage erkennt man unschwer die Zahl drei, tri- wie in Triangel, Trisomie, Trio. Dann folgt eine substantivische Endung -age, wie in Garage, Montage, Vernissage, d.h. etwa -ung – „Dreiung“ oder Dreiteilung, Priorisierung. Darin zeigt sich ein Gedanke, wie man ihn praktischerweise beim Aussortieren des Kleiderschranks entwickelt. Man stellt drei Kategorien zusammen, vielleicht drei Kartons auf, in die man die alten Sachen verteilt: Ja. Vielleicht. Nein.

Eine vergleichbare Einteilung stellte die Katastophenmedizin auf:
Ja – heilbar, nutzbar und jung.
Vielleicht – möglicherweise heilbar und wieder einsetzbar.
Nein – geringe Überlebenschance, zu alt, gesellschaftlich und medizinisch zu kostspielig.

Diese Priorisierung wird in Zeiten der Corona-Krise wieder aktuell, weil die Krankenhausversorgung aus materiellem und personellem Mangel Züge von Notfallmedizin bekommt.

Menschen, die eingeliefert werden mit Symptomen von Atemnot, müssen nach Gesichtspunkten dieses Verfahrens beurteilt werden. Menschen, deren Prognose ungünstg ist, werden eher mit Schmerzmittlen statt intensivmedizinisch versorgt. Demokratisch etablierte Grundsätze der Gleichbehandung, die dadurch nichtig werden, werfen moralische, medizinethische Fragen auf.

Im Katastrophenfall einer Pandemie folgen Leben und Sterben hinter Plastik, auf Fluren, ohne menschlichen – vielleicht verwandtstchaftlichen – Beistand. Das ruft Beunruhigung hervor.

Es werden auch Erinnerungen an Selektion geweckt, wie sie in Konzentrationslagern üblich war, Befürchtungen von Aussonderungen nach Kosten-Nutzen-Aspekten.

Die Bedrohung durch einen Atomkrieg, wie sie noch in den Ausgängen des Kalten Krieges in den siebziger Jahren spürbar waren, wurde in den frühen 80er Jahren abgelöst durch die Angst vor dem Versagen eines Atomkraftwerks, durch die Vorstellung einer Katastrophe, die sich an ihren sichtbaren und unabsehbaren Folgen wie in Hiroshima und Nagasaki orientierte. Dort hatten am Ende des 2. Weltkriegs als Antwort auf den Angriff Japans auf den US-Flottenstützpunkt Pearl Harbour im Südpazifik zwei Atombomben das Leben fast vollständig ausgelöscht und Überlebende zum Siechtum bis in kommende Generationen verurteilt. Mit dem Einsatz von Atomwaffen hatte Krieg eine neue Dimension. Verletzung war nunmehr kein Einzelschicksal, sondern ein generatives. Kriegswunden mussten nicht mehr konventionell versorgt – verbunden und operiert – werden, sondern eine genetische Beschädigung würde unabsehbare Konsequenzen zeitigen.

Was sollte geschehen mit den Opfern, eine Frage, die Mediziner vor ungeahnte Probleme stellen würde?

Deshalb ging es zunächst darum, die Frage der Vorrangigkeit zu beantworten. Daraus entstand der katastrophenmedizinische Begriff der Triage.

Diese Vorrangigkeit, also die Frage der Priorität der Opfer und ihrer Behandlung, glaubt man nun abermals durch das priorisierende Verfahren einer Triage feststellen zu können.

Triage vor dem Pentagon am 11. September 2001

Triage vor dem Pentagon am 11. September 2001 – Foto: JO1 MARK D. FARAM, USN – public domain

Jetzt ist plötzlich eine medizinische Katastrophe in unmittelbarer, bisher kaum vorstellbarer und fühlbarer Nähe. Im hochentwickelten, reichen Norden Italiens, der Lombardei, fehlen Beatmungsgeräte. Ärzte und Pflegepersonal sind menschlich, medizinisch und berufsethisch überfordert. Experten, aus China zu Hilfe gerufen, sind ratlos ob der unzureichenden Vorbereitung und des unprofessionellen Umgangs mit einer Epidemie, wie sie die heutige wirtschaftliche Verflechtung schon längst nahelegte.
Dennoch hielt sich die westlche Welt für überlegen, für unverwundbar.

Jetzt fühlen sich die Alten überflüssig und ungewollt. Soziale Nähe gibt es nur medial, Medien aber sind der älteren Generation nicht so vertraut und leicht zugänglich. Ärmere Menschen sind materiell und technisch weniger gut versorgt. Abseits großer Städte ist der Empfang weniger breit und gut. Kinder werden zum Abstandhalten abgerichtet. Fremdes wird gemieden. Suizide nehmen zu. Haustiere werden ausgesetzt. Reiche schaffen sich vorsorglich ein eigenes Beatmungsgerät an. Dann könnte ein Luxusgut ihr Leben retten.

Dies ist nicht nur eine Frage der Medizinethik, sondern auch der Rechtsethik, eine moralphilosophische Überlegung mit hoch praktischem Geschehensvorstellungen. Es sind Fragen, die sich heute neu stellen, jenseits von Krieg und erlebtem und wieder denkbarem Faschismus.

Das Grundgesetz stellt fest: Alle Menschenleben genießen vor dem Gesetz gleichen Schutz. Es wird schwierig im Konkreten: Wessen Leben geht im Fall der Konkurrenz vor. Ich führe das Beispiel an, wenn zwei Leben gegeneinander abgewogen werden müssen. Man denke an den Konflikt, wenn das Leben der Mutter – erst recht, wenn es noch weitere Knder gibt – und das des ungeborenen Kindes kollidieren. Nach der Rechtsprechung entscheidet man für die Mutter, die Person, die im Leben steht, Veranwtortung trägt für eine Familie, das Leben eines Kindes begleitet und besorgt. Das Ungeborene zwar hat das ganze Leben vor sich, aber es ist noch nicht eingebettet in den sozialen Kontext. Es ist wie ein unbeschriebenes Blatt, ein offener Ausgang. Ohne Schutz und Versorgung durch die Mutter würde man es vielfachen Gefährdungen aussetzen.

Ist das gerecht? Sollte man nicht das perspektivische Leben des ungeborenen Kindes gleich bewerten wie das – vielleicht nur vorgestellte – Leid der Mutter?

Wie gewichtet man das? Kann man einem menschlichen Leben die Priorität, den Vorzug vor dem anderen geben? Kann der Mensch über Leben oder Tod nach Gesichtspunkten von Kosten, Nutzen und zugeteilten Chancen entscheiden?