Tägliche Archive: 15. August 2021

Kindchenschema und Anpassung

Fossil of Sciurumimus

Fossil of Sciurumimus
photo: Ghedoghedo
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Von Konrad Lorenz, dem legendären Verhaltensbiologen, der ein gerade aus dem Ei geschlüpftes Gänseküken zum Objekt kindlicher Prägung gemacht hatte, stammt der Begriff des Kindchenschemas. Darunter versteht man den Schlüsselreiz, der bei brutpflegenden Wirbeltieren Brutpflegeverhalten auslöst. Das tatsächlich noch hilflose Geschöpf bestimmt das erwachsene zu Fütterung, Schutz und Pflege. Solche Schlüsselreize werden ausgelöst durch ein bestimmtes äußeres Bild. Es beseht darin, dass das Junge bestimmte Körperformen und -proportionen aufweist, die das erwachsene Tier als Hilflosigkeit und Schutzbedürftigkeit interpretiert. Unmittelbar wirkt dieser Reiz auf die Mutter des Kleinen. Aber das Besondere an diesem Reiz-Reaktionsschema ist, dass es auch andere Mitglieder des Clans, der Art, ja, sogar ganz Artfremde wie den Menschen zu solchem Fürsorgeverhalten anregt. Sogar ein Krokodilbaby oder Raubsaurierbaby kann, wie man aus Versteinerungen weiß, auf diese Weise niedlich wirken.

Bestandteile des Reizes „Kindchenschema“ sind vorrangig die Gesichtsform und die Körproportionen. Babyhafte Gesichtsformen sind gekennzeichnet durch große, runde Augen, eine gerundete Stirn- und Wangenpartie, eine kleine Nasen- und Kinnpartie. Dazu gehört eine Körperproportion, die bei Nestlingen durch rundliche, kurze Extremitäten und einen weichen runden Leib gekennzeichet ist.

Bei Mitgliedern des eignen Clans, der eigenen Art, bewirkt dieses Schema eine Pflegereaktion, jedenfalls am ehesten Beißhemmung. Dazu gehört eine Stimmlage, die bei Säugetieren Milchfluss bei anderen einen Fütterungstrieb auslösen.

Kleinkind

Kleinkind
photo: Heather Katsoulis
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Die Bewegungen sind tapsig und unbeholfen – Ausdruck von Hilfs-, Fütterungs- und Tragebedürftigkeit. Nestflüchter unter den Pfleglingen dagegen haben andere, aber gleichermaßen „niedliche“ Körperproportionen – langbeinig und staksig bei Weidetieren, flaumig bei Laufvögeln, dazu mit den typischen Kopfproportionen des Babys, da sie ja schon mit der Herde oder der Vogelgroßfamilie laufen müssen. Das sind Rehkitze, Elefanten-, Giraffen- oder Rinderkälber, die ihren Müttern bei der Futtersuche nachlaufen oder inmitten der Herde von den Erwachsenen wie in einem Schutzmantel umschlossen werden. Am deutlichsten und anrührendsten ist diese Herdenwachsamkeit bei Elefanten, wo sich die weibliche Verwandtschaft, die Tanten, mitverantwortlich für die Aufzucht der Jungen fühlen. Jungtiere sind bei Angriffen durch Großkatzen besonders gefährdet, weil die Angreifer die Silhouetten der Jungtiere instinktiv wahrnehmen.

Viel weniger geschützt sind die Jungtiere der Löwen, die zwar ebenfalls in sozialen Verbänden leben, deren Sozialsystem aber anders geregelt ist. Bei den Löwen gibt es einen Clanchef, dem eine Gruppe von Löwinnen unterstellt ist. Die Löwinnen jagen gemeinsam, versorgen ihn und sorgen für Nachwuchs, den sie auch im Jagen schulen. Wird nun der Clanführer, weil er einem Angreifer unterlegen ist, abgelöst, so vertreibt der neue, stärkere, den alten und beißt seine Jungen tot. Das geschieht, um die Weibchen schnellstmöglich wieder paarungsbereit zu machen, damit seine eigenen Gene fortzupflanzen.

Setzt man voraus, dass jede Art in der Natur Strategien sucht, um erfolgreich zu sein – ihre Jungen großzuziehen und als Art zu überleben – so ist jede Form des Zusammenlebens, der Nahrungssuche, der Aufzucht des Nachwuchses, unter dem Gesichtspunkt der Anpassung an den Lebensraum zu betrachten. Die einen schützen sich durch Menge, die anderen durch besondere Füsorge. Die einen schützen sich selbst durch Tarnung, Gift oder Schnelligkeit, die anderen opfern sich für ihren Nachwuchs auf.

Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet ist auch das Kindchenschema eine Anpassungsleistung, die ddas Überleben der Art schützen soll.