Tägliche Archive: 11. Juni 2020

Ein Menschenbild zwischen Vergänglichkeit und Naturbeherrschung

Wotan

Wotan
Bild: Hermann Hendrich, 1926
public domain

Schon zu allen Zeiten glaubten Menschen an höhere Mächte, Mächte, die über ihnen standen, sie ermächtigten, schützten und bestraften, bestimmten und lenkten. Diese Götter stellten zwar beständig Forderungen, aber sie entließen den Menschen auch aus der Verantwortung seiner Lebensgestaltung, weil sie schicksalsbestimmend waren. Das Fatum, das Schicksal des irdischen Menschen, war vorherbestimmt; und es lag in der Hand der göttlichen Macht.

Ein Unterscheidungskriterium zwischen dem irdischen und dem göttlichen Wesen war zuerst sein Aufenthaltsort. Der Mensch hatte auf Erden seine Heimat, die Götter im Himmel. Für die Griechen des klassischen Altertums war das der Olymp, eine Sphäre, die nach menschlichen Vorstellungen gestaltet und aufgeteilt, jedoch den höchsten Göttern vorbehalten war. Dem Olymp gegenüber stand der Hades, Schattenreich und Unterwelt, das Reich der Toten. Kein Lebender hatte dort Zutritt, so wie kein Toter ihm je wieder entkommen konnte. Die dritte Sphäre war die Erde, χθών, chthṓn, Erde. Sie war überschaubarer. Aber alle Regionen und Bereiche des Lebens unterstanden einer besonderen Regentschaft einer Gottheit. Die bewohnte Erde gliederte sich in menschenfreundliche, bewohnbare Regionen aber auch in abweisende, unwirtliche. Der alles umgebende Himmel dagegen erschloss sich schwerer. Er war sichtbar grenzenlos, unerreichbar, unendlich. Deshalb war er in allen Mythologien schon immer die Wohnung der Götter.

Im Lateinischen heißt Mensch homo, von altgriechisch ὁμός. homós‚ gleich, homilis „gleichartig“. Das ist auch ein humanistischer Gleichheitsgedanke. Das Wort liegt sprachlich nahe an humus, Erde, und humilis, irdisch, niedrig. Tatsächlich bedeutet es wohl „der aus Erde Geschaffene“, Erdling, Irdischer, Vergänglicher. Dahinter stand die Vorstellung der nicht durch ihn selbst beeinflussbaren Vergänglichkeit und des Zeitpunkts seines Todes. Darin spiegelte sich die Gewissheit wider, dass Sterblichkeit Zeitlichkeit bedeutet, das Zurücksinken des Lebendigen in das Tote sein werde.

Der sterbende Mensch bewegt sich wieder zu seinen Ursprüngen, der Erde, dem Humus, der aus sterblicher, toter, dennoch ehemals lebendiger Substanz entstanden war und nun dem Prozess der Zersetzung und Neuzusammenfügung anheimgegeben war. Der Begriff der „Mutter Erde“ knüpft an diese Idee an. Es bestand auch ein Trost darin, als Verstorbener werde man wieder in die Erde eingehen, wieder zu Erde werden, aus der man hervorgegangen war.

Adam und Eva

Adam und Eva
Bild: Albrecht Dürer
public domain

Nach christlicher Lehre war Adam, der Urvater aller Menschen, bei seiner Erschaffung von Gott aus einem Erdklumpen geformt worden.

Die christliche Bestattungsformel gemahnt denn auch: „Erde zu Erde. Asche zu Asche.“ Asche ist der Rest, Kohlenstoff, der übrig bleibt, wenn alle anderen Bestandteile gelöst und verbrannt sind. Der dritte Teil der Formel lautet folgerichtig: „Staub zu Staub.“ Staub ist das, was bleibt, wenn alles Wasser, die Unabdingbarkeit für Leben und Lebendigkeit, zerronnen und in neuen Organismen verstofflicht ist. Der Leichnam zerfällt dann zu Staub.

Obwohl sich die lateinische Sprache, die sich einerseits in mythologischen Übereinstimmungen und andererseits aus kulturell-kolonialen Vermischungen und räumlicher Nähe ergeben hatte, der griechischen Kultur immer verbunden war, zeigt sich im Bereich der philosophischen Auffassung des Begriffs Mensch keine sichtbare Übereinstimmung.

Es findet sich in der Etymologie des altgriechischen Wortes ἄνθρωπος, anthropos, Mensch, kein Hinweis auf eine Gemeinsamkeit mit dem lateinischen homo. Die Herkunft des griechischen Wortes liegt überwiegend im Dunkel; bedeutungsgebend scheinen eher Hinweise auf eine weiter zurückliegende, schwer zu überprüfende indogermanische Wurzel, die auf aufrechten Gang, die Benutzung des Arms, *an-, als spezifisch menschliches Merkmal weist. Denn dies ist eine Fähigkeit, die ihn zur Ausbildung der Hand als Greifinstrument – durch das in der Tierwelt bis dahin unerreichte Novum der Daumenopposition – und damit zum Gebrauch von Werkzeugen und von Waffen tauglich machte. Der Gebrauch des Arms war der Beginn körperlicher Überlegenheit gegenüber anderen Tieren. Als weitere denkbare etymologische Wurzel wird die Hinwendung des menschlichen Gesichts, πρόσωπον prósōpon, zu seinem Gegenüber in Betracht gezogen (1). Ist dieses Merkmal, sein Gesicht mit seinen Absichten, Emotionen, Stärken und Schwächen zu zeigen, nicht das zutiefst menschlichste bei der immerwährenden Konfrontation mit Freund und Feind?

(1) Eine etymologische Spur lautet ‚mit Mannesgesicht begabt’, aus *ἀνδρ-ωπ-ος ‘.Dazu πρόσωπον prósōpon, Gesicht, wobei eine Buchstabenfolge – θ für δ – ungeklärt bleibt.
http://ieed.ullet.net/friskL.html
(Stichwort ἄνθρωπος, Mensch)